Aktuelles

Das SFB-Teilprojekt A04 hat Ende Oktober einen Workshop mit Expert*innen aus der Türkei veranstaltet, in dem die Entwicklungen der Langzeitpflege in beiden Ländern analysiert wurde.

Am 21. Oktober veranstaltete das A04-Projekt "Globale Entwicklungen in den Gesundheitssystemen und Langzeitpflege als neues soziales Risiko" einen Workshop zur Langzeitpflegepolitik in der Türkei und in Deutschland. Das Hauptziel der Veranstaltung war es, die historischen und aktuellen Entwicklungen der Langzeitpflege in der Türkei und in Deutschland zu diskutieren, um wichtige Meilensteine beider Systeme zu identifizieren und zu untersuchen, ob und wie wir beide Fälle vergleichen können.

Zusätzlich zu den Teammitgliedern des A04-Projekts waren auch externe Experten für die Türkei anwesend, um den türkischen Fall zu diskutieren. Dr. Özden Güdük erörterte die historischen Entwicklungen der Langzeitpflegepolitik in der Türkei, und Cansu Erdogan stellte eines der Kapitel ihrer Dissertation mit dem Titel "Development of Long-Term Care Policies in Turkey: (Inter)national Actors, Global Norms, Domestic Dynamics".

 

Dr. Özden Güdük ist derzeit als Postdoktorandin in der Abteilung für Gesundheit, Langzeitpflege und Renten bei Socium tätig. Sie ist Assistenzprofessorin an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Yuksek Ihtisas Universität in Ankara, Türkei. Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren in verschiedenen Positionen und Organisationen im Gesundheitssektor. In letzter Zeit hat sie sich mit dem Thema der häuslichen Pflegedienste in der Türkei befasst. Dieses Thema umfasst die Patienten, die Langzeitpflege benötigen, und ihre Betreuer/Verwandten sowie die Organisationsstruktur, die die Dienstleistungen für sie erbringt.

Cansu Erdogan ist seit 2020 Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Graduiertenkolleg "Weltpolitik" an der Universität Bielefeld. Sie hat ihren Bachelor an der Koç Universität in Istanbul, Türkei, und ihren Master in Soziologie an der Universität Bielefeld absolviert. Zwischen 2017 und 2020 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "How 'social' is Turkey? Turkey’s social security system in a European context" in Bielefeld.


Kontakt:
Dr. Gabriela de Carvalho
Gabriela de Carvalho, Johanna Fischer
Gabriela de Carvalho, Johanna Fischer
Johanna Fischer und Gabriela de Carvalho erläutern im Interview, wie die Länderberichte entstehen und welchen Mehrwert sie gegenüber anderen Quellen bieten.

Vor einigen Tagen ist die zwanzigste Ausgabe der CRC 1342 Social Policy Country Briefs erschienen. Könnt ihr aus diesem Anlass noch einmal kurz erklären, worum es in dieser Serie geht?

Johanna Fischer: Die Reihe besteht aus Kurzberichten, die sich jeweils auf einen bestimmten sozialpolitischen Bereich in einem einzelnen Land konzentrieren. So wurden beispielsweise die letzten beiden Berichte über das Gesundheitssystem in Bulgarien (Nr. 19) und das Langzeitpflegesystem in Schweden (Nr. 20) veröffentlicht. Im Einklang mit dem aktuellen Schwerpunkt des SFB - der Entstehung der Sozialpolitik - konzentrieren sich die Länderberichte auf die Einführung von Sozialschutzmaßnahmen und -systemen und deren weitere Entwicklung bis heute. Ziel der Reihe ist es, Länder- und Politikexpert*innen die Möglichkeit zu geben, ihr Wissen in einem halbstrukturierten Format zu teilen, die Informationen über die Open-Access-Publikationen zu verbreiten und wenig erforschte Fälle zu beleuchten, insbesondere solche, die außerhalb von Volkswirtschaften mit hohem Einkommen liegen.

Wie ist es zu dieser Serie gekommen?

Gabriela de Carvalho: Im Rahmen unseres Teilprojekts A04 zu den globalen Entwicklungen in den Gesundheitssystemen und der Langzeitpflege als neues soziales Risiko (sowie des SFB insgesamt) sammeln wir eine Vielzahl von Daten, z. B. zu den Einführungszeitpunkten von Gesundheits- und Langzeitpflegesystemen, ihren Merkmalen und den nachfolgenden Reformen. Daraus ergeben sich zahlreiche Indikatoren, die im Globalen Wohlfahrtsstaat-Informationssystem (WeSIS) des CRC gespeichert sind und von uns und anderen für die Forschung genutzt werden können. Diese Informationen sind jedoch - hauptsächlich - in kategorischen und numerischen Indikatoren erfasst. Wir haben die Country Brief Series ins Leben gerufen, um diese Datensätze mit detaillierteren Beschreibungen in einem erzählenden Format und mit Informationen, die Länderexpert*innen oder Teammitglieder zusammengetragen haben, zu ergänzen. Wir hielten es für schade, wenn dieses umfassende Wissen über die Anfänge und die Entwicklung der Gesundheits- und Pflegesysteme nicht erfasst und veröffentlicht würde. Für die Zukunft ist geplant, dass die Country Briefs auch in WeSIS als zusätzliche länderbezogene Ressource gespeichert werden.

Welchen besonderen Nutzen hat die Serie im Vergleich zu bestehenden sozialpolitischen Länderprofilen?

Johanna Fischer: Die CRC 1342 Social Policy Country Briefs haben mehrere Vorteile, die von anderen Publikationsreihen nicht vollständig abgedeckt werden. Einer davon ist der explizite historische Fokus - im Einklang mit der Forschungsagenda des SFB - auf die anfängliche Einführung und die weitere chronologische Entwicklung der Sozialschutzsysteme. Andere Veröffentlichungen konzentrieren sich viel mehr darauf, eine Momentaufnahme der derzeit bestehenden Systeme zu liefern. Wir sind jedoch der Meinung, dass es wichtig ist, die aktuellen Entwicklungen mit einem gründlichen Verständnis ihrer historischen Entwicklung zu kontextualisieren, um zu verstehen, warum sie so aussehen, wie sie heute aussehen, und auch um Länder in verschiedenen Entwicklungsstadien zu vergleichen.

Gabriela de Carvalho: Wir betonen auch die Rolle des Staates in den Gesundheits- und Langzeitpflegesystemen und die unterschiedliche Art und Weise, wie dieser Akteur die Verantwortung für Gesundheit und Altenpflege übernommen hat. Obwohl wir planen, Kurzberichte über alle Länder der Welt zu veröffentlichen, konzentrieren wir uns besonders auf wenig erforschte Fälle aus dem Globalen Süden. Beispiele hierfür sind die Berichte über die Gesundheitssysteme von Äquatorialguinea und Mosambik, die derzeit geprüft werden.

Gabriela, du hast die erste Ausgabe der Serie geschrieben – was ist bei einem solchen Bericht die größte Herausforderung?

Gabriela de Carvalho: Die größte Herausforderung beim Verfassen eines solchen Berichts ist, so würde ich sagen, die "Neuartigkeit" des Inhalts. Da wir hier im SFB ein ausdrückliches Interesse an historischen Entwicklungen und der Rolle des Staates in der Sozialpolitik haben, beleuchten unsere Länderberichte diese Themen, was sich von bestehenden Beschreibungen der Sozialpolitik unterscheidet. Daher ist vor der Erstellung des Berichts eine historische Analyse und Reflexion der einzelnen Fälle erforderlich.

Es gibt auch konzeptionelle Herausforderungen: Zum Beispiel haben Expert*innen unterschiedliche Methoden, um zu messen und zu operationalisieren, was ein System ist und wann ein System beginnt. Dies erfordert einen offenen und ständigen Dialog zwischen den Herausgeber*innen der Reihe (Mitglieder des A04-Teilprojekts) und den Autor*innen.

Außerdem ist die Datenverfügbarkeit von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die Autor*innen müssen die bereitgestellte Vorlage oft leicht anpassen, um Fragen der Datenverfügbarkeit und -zuverlässigkeit Rechnung zu tragen.

Wie wählt ihr die Themen der Ausgaben (Politikfeld und Land) aus?

Johanna Fischer: Derzeit arbeiten wir an den beiden Politikbereichen, die von unserem Projekt abgedeckt werden, d. h. Gesundheit und Langzeitpflege. Was die Länder betrifft, so haben wir vor allem mit den Ländern begonnen, bei denen wir bereits Kontakt zu potenziellen Autor*innen hatten, z. B. weil sie bereits an unseren Expertenbefragungen teilgenommen hatten. Außerdem haben wir versucht, eine Vielzahl von Ländern in verschiedenen Regionen zu berücksichtigen. Unser Ziel ist es ausdrücklich, Fälle außerhalb der häufig analysierten Standardstichproben aus dem Norden und Westen abzudecken, auch wenn wir natürlich gerne auch Berichte über die bekannteren Fälle aufnehmen. Im Bereich der Langzeitpflege beispielsweise haben sich viele Berichte bisher auf die langjährigen Mitglieder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung oder der Europäischen Union konzentriert. Wir freuen uns daher, dass wir diese Stichprobe bereits erweitern konnten, zum Beispiel mit den Country Briefs über Uruguay, Costa Rica, Taiwan, Singapur, die Ukraine und Serbien.

Gabriela de Carvalho: Im Falle des Gesundheitswesens sind Berichte über Länder wie Jamaika, Mosambik, Albanien und Mexiko bereits veröffentlicht worden oder werden derzeit überarbeitet.

Werden in Zukunft auch andere Politikfelder in der Serie berücksichtigt werden?

Johanna Fischer: Wir sind offen für eine Ausweitung der Reihe auf andere Politikbereiche. Daher möchten wir in Zukunft enger mit anderen Projekten des SFB zusammenarbeiten, um dies zu ermöglichen.


Kontakt:
Dr. Gabriela de Carvalho
Dr. Johanna Fischer
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57074
E-Mail: johanna.fischer@uni-bremen.de

Gabriela de Carvalho, Jakob Henninger
Gabriela de Carvalho, Jakob Henninger
De Carvalho hat die Rolle globaler Akteure in der Gestaltung von Gesundheitssystemen im Globalen Süden untersucht, Henninger das Zusammenspiel von Einwanderungs- und Sozialpolitik in autoritären Regimen.

Gabriela de Carvalhos Arbeit trägt den Titel "The role of global actors in shaping healthcare systems: Advancing analytical frameworks to better portray the empirical reality of Global South countries" und wurde mit "magna cum laude" bewertet.

Das Hauptziel ihrer Dissertation ist, die Rolle globaler Akteure bei der Gestaltung von Gesundheitssystemen in Ländern des Globalen Südens zu analysieren, um die typologische Analyse voranzubringen und die empirischen Ausprägungen von Gesundheitssystemen weltweit, insbesondere in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen, besser darzustellen. Die Dissertation besteht aus drei Beiträgen: Die erste Studie untersucht empirisch, ob und wie IOs, genauer gesagt die Weltbank (WB), die (rechtlichen) Grundlagen der Gesundheitssysteme in den Ländern des Globalen Südens beeinflussen (Paper A). Die zweite Untersuchung besteht aus einem systematischen Literaturüberblick über die Forschung zu Typologien von Gesundheitssystemen, um zu überprüfen, ob die bestehenden Konzepte (a) die zunehmende Rolle globaler Akteure bei der Gestaltung von Gesundheitssystemen berücksichtigen und (b) in der Lage sind, das Universum der Gesundheitssysteme weltweit abzubilden, mit besonderem Fokus auf LMICs (Paper B). Schließlich wird ein konzeptioneller und analytischer Rahmen von Gesundheitssystemen vorgeschlagen, um Arrangements darzustellen und zu vergleichen, wobei die Besonderheiten der Systeme des Globalen Südens berücksichtigt werden (Paper C).

Paper A:
de Carvalho, G. (2021). The World Bank and healthcare reforms: A cross-national analysis of policy prescriptions in South America. Social Inclusion (in press).

Paper B:
de Carvalho, G., Schmid, A., & Fischer, J. (2021). Classifications of healthcare systems: Do existing typologies reflect the particularities of the Global South? Global Social Policy, 21(2), 278–300. https://doi.org/10.1177/1468018120969315

Paper C:
Frisina Doetter, L., Schmid, A., de Carvalho, G., & Rothgang, H. (2021). Comparing apples to oranges? Minimising typological biases to better classify healthcare systems globally. Health Policy OPEN, 2, 1–8. https://doi.org/10.1016/j.hpopen.2021.100035

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Jakob Henningers Doktorarbeit trägt den Titel "The Politics of Immigration and Social Protection in Electoral-Authoritarian Regimes" und wurde mit der Note "summa cum laude" benotet (Prüfungskommission: Susanne K. Schmidt, Friederike Römer, Christian Joppke, Heiko Pleines, Patrick Sachweh, Johanna Kuhlmann).

Zu Jakob Henningers Ergebnissen zählen u.a.:

  • Bedenken in der Bevölkerung hinsichtlich Zuwanderung führen eher in autoritären Regimen als in Demokratien zu einem Anstieg der Nachfrage nach sozialer Sicherung.
  • Fragen im Parlament sind auch in elektoralen autoritären Regimen ein Mittel oppositioneller Abgeordneter, die Einwanderungspolitik der Regierung zu kritisieren.
  • In elektoralen autoritären Regimen sind die Ziele und Aktionen zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich für die Rechte von Immigrant*innen einsetzen, deutlich schwächer als in demokratischen Staaten.


Ein Paper, auf dem die Doktorarbeit basiert, ist bereits erschienen: Choose your battles: How civil society organisations choose context-specific goals and activities to fight for immigrant welfare rights in Malaysia and Argentina, mit Friederike Römer (2021) in Social Policy & Administration. Zwei weitere Paper liegen als Manuskript vor.


Kontakt:
Dr. Gabriela de Carvalho
Dr. Jakob Henninger
DeZIM e.V.
Mauerstraße 76
10117 Berlin
E-Mail: jakob.henninger@uni-bremen.de

Dr. Achim Schmid, Gabriela de Carvalho, Johanna Fischer (v.l.n.r.)
Dr. Achim Schmid, Gabriela de Carvalho, Johanna Fischer (v.l.n.r.)
Gabriela de Carvalho erklärt im Interview, warum bestehende Typologien von Gesundheitssystemen einen starken Global-North-Bias haben und warum das problematisch ist.

Gabriela de Carvalho, Achim Schmid und Johanna Fischer haben die Literatur zu Klassifikationen von Gesundheitssystemen untersucht. Das Team hat festgestellt, dass die bestehenden Typologien einen starken Global-North-Bias aufweisen und somit wichtige Merkmale der Gesundheitssysteme des Globalen Südens nicht erfassen können. Gabriela de Carvalho, die Erstautorin des in Global Social Policy veröffentlichten Papers, erläutert einige Details ihrer Ergebnisse und was diese für Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger bedeuten.

Ihr habt die Literatur zu den bestehenden Klassifikationen von Gesundheitssystemen ausgewertet und festgestellt, dass diese kaum geeignet sind, um damit Forschung über den Globalen Süden zu betreiben. Was ist der Grund dafür?

Gabriela de Carvalho: Das Hauptziel unserer Forschung war die Auswertung der Literatur zur Typologie der Gesundheitssysteme und ihre Fähigkeit, die Besonderheiten der Gesundheitssysteme des Globalen Südens zu erfassen. Die Ergebnisse unserer Studie weisen auf die Grenzen verschiedener Merkmale bestehender Typologien hin: ihrer Abdeckung, der verwendeten Methoden und der Kriterien, auf denen sie aufbauen. Was die Abdeckung betrifft, so werden die Gesundheitssysteme der LMICs (Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen) in der Literatur nur selten berücksichtigt, da die klassifizierten Fälle im Verhältnis 1:5 aus Ländern des Südens und des Nordens bestehen. Was die Methoden anbelangt, so werden durch das übermäßige Zurückgreifen auf induktive Ansätze bei der Klassifizierung oft Länder ausgeschlossen, die sich nicht numerisch erfassen lassen. Gesundheitsstatistiken konzentrieren sich meist auf den Globalen Norden und enthalten erst in jüngster Zeit mehr Daten über Länder des Südens, was die Analyse von Regelungen jenseits der Länder mit hohem Einkommen erschwert. Die Verwendung induktiver Typologien zur Klassifizierung von Systemen kann zu schlecht abgesicherten Klassifikationen führen, insbesondere wenn die Studie darauf abzielt, ein Instrument für die Anwendbarkeit über ihre Stichprobe von Fällen hinaus zu schaffen. Im Hinblick auf die Kriterien und Merkmale, nach denen Gesundheitssysteme verglichen werden, werden dominante Merkmale von Gesundheitssystemen, die in den LMICs meist vorhanden sind, wie die Segmentierung des Systems für verschiedene Bevölkerungsgruppen, in vielen Typologien nicht berücksichtigt. Dies führt häufig zu Typologien, die die empirische Realität des Südens nicht erfassen.

In eurem Paper schreibt ihr, dass sich die Gesundheitssysteme in vielen Ländern des Globalen Südens sehr von denen des Globalen Nordens unterscheiden. Was sind die wichtigsten Punkte?

Gabriela de Carvalho: Alle Gesundheitssysteme, unabhängig vom Land, stehen vor zahlreichen Herausforderungen, und die aktuelle Pandemie hat dies noch deutlicher gemacht. Dennoch ist unbestreitbar, dass die Systeme des Globalen Südens mit noch größeren finanziellen und technischen Zwängen zu kämpfen haben. Neben größeren Disparitäten bei den Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheitsversorgung, der Zahl der Gesundheitsfachkräfte und der Krankheitslast sind die LMICs stärker abhängig von internationalen Akteuren (transnationale Organisationen, INGOs und Drittländer), um ihre Systeme zu finanzieren, Dienstleistungen zu erbringen und sogar zu regulieren. Ein weiteres sehr wichtiges Merkmal vieler Gesundheitssysteme des Globalen Südens ist die Segmentierung, die Koexistenz verschiedener Systeme, die je nach Einkommen, sozialem Status und/oder Art der Beschäftigung auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen abzielen. In der Regel sind die Armen aufgrund ihres Ausschlusses von der formellen Beschäftigung Nutznießer der öffentlichen Dienstleistungen, während die oberen Schichten sozial und/oder privat versichert sind. Diese Schichtung führt zu weitreichenden gesundheitlichen Ungleichheiten, da öffentliche Dienstleistungen nur eine Grundversorgung bieten und Zusatzleistungen nur von denjenigen in Anspruch genommen werden können, die in der Lage sind, sie sich zu leisten.

Worin siehst du die Gründe dafür, dass diese Aspekte in der Klassifikationsliteratur bisher nicht ausreichend berücksichtigt wurden?

Gabriela de Carvalho: Im Allgemeinen glauben wir, dass sich die wissenschaftliche Forschung aufgrund der Datenverfügbarkeit, der finanziellen und technischen Ressourcen, der institutionellen Kapazitäten und des Interesses der Forscher noch immer auf die OECD-Länder konzentriert. Natürlich hat in den letzten Jahrzehnten eine Ausweitung der (Gesundheitssystem-)Forschung zu den LMICs stattgefunden, vor allem in Form von vertieften Fallstudien, aber sie hinkt im Vergleich zur Literatur des Globalen Nordens immer noch hinterher, insbesondere wenn es um einen systematischen Vergleich geht. Wenn die vielfältigeren Fälle nicht berücksichtigt werden, wird die Literatur weiterhin nur teilweise die empirische Realität abbilden und die "Unsichtbarkeit" der weniger untersuchten Länder und Regionen verstärken. Insbesondere für die Wissenschaft, die wir analysieren, ist klar, dass die Klassifizierung und die Entwicklung aussagekräftiger Typologien viel komplizierter ist, wenn es sich um Länder des Globalen Südens handelt. Die Gründe dafür variieren von der Segmentierung/parallelen (öffentlichen) Systemen, von Bevölkerungsteilen und/oder Gesundheitsdiensten, die den Märkten überlassen werden, bis hin zur Existenz weniger "ausgereifter" Systeme. Während die Systeme im Globalen Norden in gewisser Weise auch gemischt oder hybride Systeme sein können, ist es viel schwieriger, die Informationen zu verdichten und ein LMIC einem Idealtyp zuzuordnen.

Welche Folgen hat die Diskrepanz zwischen den bestehenden Klassifikationen in der Literatur und den im Globalen Süden existierenden Gesundheitssystemen - für die wissenschaftliche Forschung und für die Praxis/Politik?

Gabriela de Carvalho: Da sich die Literatur bei der Entwicklung von Klassifikationsinstrumenten häufig auf die Gesundheitssysteme des Globalen Nordens stützt, liegt die Vermutung nahe, dass die aus diesen Typologien resultierenden Modelle die Vorstellungen von Wissenschaftlern und politischen Entscheidungsträgern darüber, wie ein Gesundheitssystem aussieht - und aussehen sollte - stärker prägen und beeinflussen. Wir gehen davon aus, dass Beispiele aus Ländern mit hohem Einkommen (falsch) so interpretiert werden können, dass sie die "besten" Modelle oder "Benchmarks" darstellen, was zur Festlegung von Standards für andere Länder führen kann, ohne die besonderen und grundlegenden Merkmale der Gesundheitssysteme in den LMICs zu berücksichtigen. Dies könnte auch dazu führen, dass die Politikberatung nach den bekannten Typen modelliert wird. Für die wissenschaftliche Forschung könnte diese Nordorientierung neue Wissensproduktion behindern, die sich möglicherweise auf weniger analysierte Fälle konzentrieren könnte, da die Forschung dazu neigt, sich auf einflussreiche Werke zu konzentrieren und ungewohnte Fälle oder neue theoretische Überlegungen beiseite zu lassen.

Das gesamnte Paper (Open Access) lesen: Classifications of health care systems: Do existing typologies reflect the particularities of the Global South?

Mehr über die Arbeit von Gabriela de Carvalho, Achim Schmid, Johanna Fischer und des gesamten Projekt-A04-Teams:
Globale Entwicklungen in Gesundheitssystemen und in der Langzeitpflege als neues soziales Risiko


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