Teilprojekt B06 (2018-2021)

Externe Reformmodelle und interne Debatten bei der Neukonzipierung von Sozialpolitik in der post-sowjetischen Region

Das Teilprojekt beschäftigt sich mit den Entwicklungsdynamiken staatlicher Sozialpolitik in der post-sowjetischen Region und erfasst sie über die Analyse der Reformdiskussionen und der daraus folgenden Gesetzgebungen. Es untersucht, wie in der post-sowjetischen Region westliche Reformmodelle durch politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit bewertet wurden und welchen Einfluss sie auf tatsächliche sozialpolitische Reformen hatten.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion mussten alle neugegründeten Staaten gleichzeitig ihr gesamtes Wohlfahrtssystem von demselben sowjetischen Modell ausgehend neu konzipieren. Das bietet eine ideale Möglichkeit, den Einfluss sozialpolitischer Konzepte aus der OECD-Welt auf die Reformprozesse nationalstaatlicher Sozialpolitik in einer Nicht-OECD-Region vergleichend zu untersuchen.

Der Schwerpunkt liegt dabei auf vertikalen Verflechtungen, denn das von internationalen Organisationen wie IWF und Weltbank vertretene neo-liberale Reformmodell – das oft als "Washington Consensus" bezeichnet wird – bot in der tiefen Wirtschaftskrise der Region eine offensichtliche Alternative, die in der Literatur als prägendes Element staatlicher Sozialpolitik in dieser Weltregion wahrgenommen wird. Zentrales Ziel war es, die Generosität und den Inklusionsgrad sozialpolitischer Maßnahmen deutlich zu verringern, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren.

Ein Jahrzehnt nach Beginn der Reformen änderte sich das Bild. Zum einen emanzipierten sich einige Staaten der post-sowjetischen Region von internationalen Geldgebern, zum anderen änderten die internationalen Finanzorganisationen selber in den 2000er-Jahren ihr Leitbild hin zu einem neuen "post-Washington Consensus". Diese Entwicklungen sind in der wissenschaftlichen Literatur für die Untersuchungsregion bisher so gut wie nicht erfasst worden.

Im Teilprojekt fragen wir deshalb am Beispiel richtungsweisender Reformdebatten in den Politikfeldern soziale Grundsicherung und Gesundheit in ausgewählten Ländern der post-sowjetischen Region für die erste Reformphase der 1990er-Jahre sowie für eine mindestens ein Jahrzehnt später folgende zweite Reformphase, wie die zugrundeliegenden sozialpolitischen Konzepte zu bewerten sind und insbesondere welche Rolle politische Entscheidungsträger und die Öffentlichkeit westlichen Reformmodellen beimaßen. Als Untersuchungsländer wurden Russland, Kasachstan und die Ukraine gewählt, da diese nach einer ersten Reformphase in den 1990er mit hoher vertikaler Verflechtung (also großer Abhängigkeit von internationalen Organisationen als Ideen- und vor allem auch Finanzgeber), in einer zweiten Reformphase diesbezüglich große Unterschiede aufweisen, die von fortwährender Abhängigkeit (Ukraine), über Emanzipation (Kasachstan) bis zu expliziter Ablehnung (Russland) reichten.

Mit der Länderauswahl wird zum einen mit den Studien zu den Untersuchungseinheiten in der Ukraine ein systematischer Vergleich des Washington Consensus mit dem "post-Washington Consensus" möglich. Zum anderen können nationale sozialpolitische Debatten für eine Phase hoher vertikaler Verflechtung (also großer Abhängigkeit von internationalen Organisationen als Ideen- und vor allem auch Finanzgeber) mit einer nachfolgenden Phase der Emanzipation (Kasachstan) bzw. der nachdrücklichen Ablehnung (Russland) des Einflusses internationaler Organisationen verglichen werden. Eine Arbeitshypothese des Teilprojektes ist insofern, dass der Bedeutungsverlust internationaler Organisationen nicht zwingend zu veränderten konzeptionellen Prioritäten führt, da einflussreiche nationale Akteure die entsprechenden Politikvorstellungen ebenfalls vertreten.
Da zu Beginn der Datenerhebung festgestellt wurde, dass Entwicklungshilfe alternative Mechanismen zum Einfluss internationaler Organisationen auf Sozialpolitik bietet, wurde Kirgistan – als häufig zitiertes Musterbeispiel für koordinierte Entwicklungshilfe im Bereich der Gesundheitspolitik – als Untersuchungsland ergänzt. Als Vergleichsfälle wurden für Teilaspekte zusätzlich Armenien und Georgien in die Analyse einbezogen.

Das Teilprojekt ist in seinem Design auf Untersuchungseinheiten zentriert, in denen es um die konkreten Reformdebatten geht. Dabei wird ein analytisch instrumentelles Diskursverständnis zugrunde gelegt, wonach Diskurse ein Medium und Indikator für Machtausübung in der politischen Entscheidungsfindung sind. Der Schwerpunkt der Analyse liegt damit auf den zentralen Akteuren und ihren diskursiven Strategien bei der Neugestaltung der post-sowjetischen Sozialsysteme. Auch das Politikergebnis wird in die Analyse einbezogen. Der untersuchte Wirkungspfad verläuft von den durch internationale Organisationen vertretenen Reformkonzepten über die Strategien relevanter nationaler Akteure (Perzeption) und die nationalen Reformdebatten (Interaktion) zur politischen Entscheidung über konkrete sozialpolitische Reformprojekte (Gesetzgebung) und ihre Implementierung.