News-Archiv

News filtern
Suchergebnis:

One of Italy‘s long-term care experts, Dr. Giovanni Lamura, who leads the Centre for Socio-Economic Research on Ageing (https://www.inrca.it/zz?uMH9) within the National Institute of Health and Science on Ageing (INRCA IRCCS), had exciting news to deliver

The main factors that made this much needed reform possible included the COVID-19 pandemic, post-pandemic resilience plans funded by the EU, the leadership of the previous government under Draghi, as well as the joint lobbying efforts of a large civil society coalition together with a group of long-term care experts. The coalition comprises almost 60 organisations including care providers, trade unions, employer associations, religious organisations, and the most expert academics in the field, including Lamura himself. Strongly supported by the bottom-up process initiated by this coalition, the framework law will allow for the creation of legislative decrees which in turn can implement its core elements via more detailed acts.

The elements of the framework law cover several aspects of long-term care for older people. The proposal made by the coalition to establish long-term care as a distinct sector of the welfare state was not included in the framework law, but one of the main elements of Italian long-term care will be significantly changed: The care allowance (indennità di accompagnamento) will see its first major overhaul since its creation in the 1980s. It will be replaced by a Universal Benefit which for the first time will foresee different levels of care needs. This will also require a standardisation of the assessment system, which so far had been characterised by wide regional differences in terms of practical implementation. The Universal Benefit will be granted either in the form of monetary transfers, or in-kind services. The latter could also include privately hired home-based care workers – half of which are currently employed in undeclared form – and thus facilitate regular contractual conditions. Other plans to integrate these home-based care workers (mostly female migrant workers) into the long-term care system foresee harmonised training paths and standards, as well as the reorganisation of existing contributions and tax reliefs for families who employ these care workers.

Other elements of the reform address the requalification of residential care, the horizontal fragmentation of the current system via an inter-ministerial committee, the vertical coordination of different governance levels, as well as improved support structures for family carers. Finally, the framework law also promotes active ageing and thereby follows a holistic and preventative approach to long-term care.

Whilst Dr. Lamura pointed to the difficulties on funding for the envisaged changes in long-term care – a policy field that is often subjugated to healthcare – he did underline the enormous step that was taken with this framework law. He is hopeful that the effective lobbying efforts of the civil society coalition that formed in this process will continue to positively impact the reform of long-term care for older people in the upcoming years.

To learn more about the pact for a new welfare in long-term care for older people, visit (only in Italian): https://www.pattononautosufficienza.it/.

Text: Marlene Seiffarth

 

Marlene war in der ersten Förderphase Mitglied des SFB 1342 und hat in ihrer Arbeit untersucht, welche und wie staatliche und kollektive Akteure den Institutionalisierungsprozess des italienischen Migrant-in-the-Family Pflegemodells prägen.

Am 21. März hat das ehemalige SFB-Mitglied Marlene erfolgreich ihre Doktorarbeit verteidigt, welche auf ihrer Forschung während der ersten Förderphase des SFB 1342 im Projekt B07 „Transnationale Dienstleistungserbringung in der Langzeitpflege zwischen West- und Osteuropa“ basiert [https://www.socialpolicydynamics.de/projekte/abgeschlossene-teilprojekte/teilprojekt-b07-2018-21-]. Ihre kumulative Dissertation besteht aus drei Artikeln, die bereits in peer-reviewed Journals erschienen sind (siehe Links unten).

 

Ihre kumulative Dissertation mit dem Titel „Die Aufrechterhaltung des Migrant-in-the-Family Pflegemodells in Italien“ besteht aus drei Erstveröffentlichungen, die alle in peer-reviewed Journals erschienen sind (siehe Links unten). In einer farbenfrohen und anregenden Präsentation stellte sie die Beiträge ihrer Arbeiten sowohl für akademische als auch für politische Diskussionen vor. Alle Arbeiten belegen, dass ein Pflegemodell aufrechterhalten wird, das auf globalen Ungleichheiten beruht und diese reproduziert. Diese Ungleichheiten manifestieren sich in unzureichenden Arbeitsbedingungen für die fast eine Million (meist weiblichen) Arbeitsmigrant:innen in der häuslichen Pflege, die hauptsächlich aus osteuropäischen Ländern (63%) und Ländern des globalen Südens (37%) stammen. Obwohl die informelle Beschäftigung (ohne Vertrag und ohne Anmeldung bei der Sozialversicherung) in der Pflegemigration weit verbreitet ist, ging der Anteil der informellen Beschäftigung von 90% im Jahr 1995 auf 52% im Jahr 2021 zurück. Ein wichtiger Faktor in diesem Formalisierungsprozess in Italien sind die Bemühungen der Sozialpartner – Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – die in Abwesenheit von politischen Regelungen und veralteten Rechtsvorschriften mithilfe von Tarifverträgen unhintergehbare Standards für den Hausangestelltensektor geschaffen haben. Des Weiteren bieten sie durch administrative und rechtliche Unterstützungsangebote für ihre Mitglieder ein günstiges Umfeld für Formalisierung.

 

Weitere Ergebnisse von Marlenes Forschung finden sich in ihren Veröffentlichungen:

Seiffarth, M. (2023) Collective bargaining in domestic work and its contribution to regulation and formalization in Italy, International Labour Review, Accepted Author Manuscript, https://doi.org/10.1111/ilr.12382

Seiffarth, M. (2022) Potenziale für „gute Arbeit“ im Privathaushalt? Regulierung und Interessenvertretung migrantischer Pflegekräfte in Italien, WSI Mitteilungen 75(5), 386-393, https://www.wsi.de/de/wsi-mitteilungen-regulierung-interessenvertretung-migrantischer-pflegekraefte-in-italien-43650.htm.

Seiffarth, M & Aureli, G. (2022) Social Innovation in Home-Based Eldercare: Strengths and Shortcomings of Integrating Migrant Care Workers into Long-Term Care in Tuscany,
Int. J. Environ. Res. Public Health, Vol. 19 (17), 10602; https://doi.org/10.3390/ijerph191710602

Seiffarth, M. (2021) Crisis as Catalyst? Romanian Migrant Care Workers in Italian Home-Based Care Arrangements, Sociológia - Slovak Sociological Review, Vol. 53 (5), 502-520; https://doi.org/10.31577/sociologia.2021.53.5.19

 

Dr. Lorraine Frisina-Doetter (SOCIUM und CRC 1342) war als Berichterstatterin für die WHO/Europa beim allerersten Regionalforum zum Thema “Health in the Well-Being Economy” am 1./2. März 2023 in der UN-Stadt in Copenhagen vor Ort.

Aufbauend auf die wachsende Sensibilisierung für die Wichtigkeit der Gesundheit für die Well-Being Economy zeigte das Forum auf, wie Länder heute bereits Investitionen, Ausgaben und Ressourcen in diesem Sinne umverteilen.

Das Forum befasste sich mit Aktionen, die angesichts der verketteten Herausforderungen des Klimawandels, des Ukraine-Kriegs, der COVID-19- Pandemie und der Krise der Lebenshaltungskosten künftig unternommen werden müssen. All diese Probleme stellen eine extreme Belastung für die Gesundheits-, Versorgungs- und Wohlfahrtssysteme dar, was zu weiteren gesundheitlichen Ungleichheiten in der gesamten Region führt.

Das Ereignis brachte hochrangige VertreterInnen aus Gesundheits-, Finanz- und Wirtschaftsministerien zusammen mit RegierungsberaterInnen aus den Bereichen Erholung, Resilienz und nachhaltiger Enwicklungspolitik, EntscheidungsträgerInnen aus dem Gesundheitswesen, und VertreterInnen der nationalen und internationalen Banken, Nichtregierungsorganisationen, sowie Institutionen der Vereinten Nationen und der Europäischen Union.

Zu den HauptrednerInnen gehörten Dr Hans Henri P. Kluge, Regionaldirektor der WHO für Europa; Katrin Jakobsdóttir, Ministerpräsidentin Islands; Professor Mario Monti, ehem. Ministerpräsident Italiens und EU-Kommissar; sowie Professor Sir Michael Marmot, Direktor des Instituts für gesundheitliche Chancengleichheit (Institute of Health Equity) am University College London.


Kontakt:
Dr. Lorraine Frisina Doetter
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 3
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58561
E-Mail: frisina@uni-bremen.de

Irene Dingeldey und Ulrich Mückenberger editierten die jüngste Ausgabe der International Labour Review, bei der das im SFB 1342 entwickelte Konzept der Legal Segmentation im Fokus steht.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in ihrer Fachzeitschrift International Labour Review den Special Issue Overcoming legal segmentation: Extending legal rules to all workers? herausgegeben. Der Band wurde von Irene Dingeldey und Ulrich Mückenberger (Teilprojekt A03) editiert und enthält Ergebnisse aus der ersten Förderphase des SFB 1342 zu dem Konzept der legal segmentation (also Arbeitsmarktsegmentierungen, die von staatlichem Recht herrühren) und darauf bezogene quantitative Resultate. Erweitert wurde der Special Issue um Regionalstudien anerkannter Expert:innen zu Südasien, Lateinamerika und dem südlichen Afrika, die im Wesentlichen die These bestätigen, dass dem Recht eine segmentierende Rolle zukommt, die erst in den letzten Jahrzehnten durch egalisierende Normelemente relativiert wird. Die ILO nimmt in diesen Band auch die kritische Sicht auf, dass ihre eigene Normsetzungspraxis durch legal segmentation geprägt ist und erst jüngst universalisierender Regulierung verstärkt Raum gibt.

Die International Labour Review der ILO erscheint auf Englisch, Spanisch und Französisch, wodurch die Ergebnisse von Teilprojekt A03 Eingang findet in einen globalen Diskurs von sozialpolitisch involvierten Wissenschaftler:innen, Praktiker:innen und politischen Entscheider:innen.

---

Ulrich Mückenberger & Irene Dingeldey (2022): Overcoming legal segmentation: Extending legal rules to all workers?, International Labour Review (Special Issue), Volume 161 (4). https://onlinelibrary.wiley.com/toc/1564913x/2022/161/4

 


Kontakt:
Prof. Dr. Irene Dingeldey
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut Arbeit und Wirtschaft
Wiener Straße 9 / Ecke Celsiusstraße
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-61710
E-Mail: dingeldey@uni-bremen.de

Prof. Dr. Ulrich Mückenberger
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Fachbereich Rechtswissenschaft
Universitätsallee, GW1
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-66218
E-Mail: mueckenb@uni-bremen.de

Fritz Kusch (Foto: BIGSSS)
Fritz Kusch (Foto: BIGSSS)
Fritz Kusch sucht in US-Archiven nach Belegen für den Zusammenhang von Protektionismus und Sozialpolitik. Im Interview zieht er eine erste Bilanz und erinnert sich auch an Notizen Wilhelm des II., die er für seine Masterarbeit zu entziffern versuchte.

Lieber Fritz, du bist seit einem guten halben Jahr am SFB - was hast du davor gemacht?

Ich habe in Freiburg Geschichte im Hauptfach und Politikwissenschaften im Nebenfach studiert und mit einem Bachelor abgeschlossen. Während dieser Zeit war ich auch an einer Uni in Istanbul, wo ich die türkische Sprache kennen und schätzen gelernt habe. Ich habe auch angefangen, mich mit türkischer und osmanischer Geschichte zu beschäftigen. Das hat mich dann dazu bewogen, nach meinem Abschluss in Freiburg ein zweites Bachelorstudium zu beginnen: Turkologie an der Freien Universität Berlin.

Parallel zu deinem Turkologie-Studium hast du auch ein Masterstudium absolviert …

Ich habe einen Master in Geschichte gemacht mit dem Schwerpunkt Nordamerika. US-Geschichte war schon längere Zeit ein Steckenpferd von mir. Zwischen der nordamerikanischen und der türkisch-osmanischen Geschichte gibt es sehr wenige Anknüpfungspunkte, aber das sehe ich eigentlich eher als Chance: Es ist durchaus bereichernd, auch ganz andere Themen und Zusammenhänge zu betrachten. Dadurch bekommt man oft eine neue, frischere Perspektive auf die einzelnen Themen.

Worum ging es in deiner Masterarbeit?

Um zwei Statuen Friedrich Wilhelm von Steubens, die 1910 in Washington und 1911 in Potsdam errichtet wurden. Das Thema verbindet Erinnerungs-, Migrations- und Diplomatiegeschichte. Steuben war ein preußischer General, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat und für die deutschstämmige Bevölkerung in Amerika zu einem Ethnic Hero geworden ist. Eine Art symbolischer Repräsentant für den Status der Deutschamerikaner:innen in der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft. Um die Jahrhundertwende haben sich verschiedene ethnische Gruppen in den USA dafür eingesetzt, Statuen ihrer jeweiligen Ethnic Heroes im öffentlichen Raum zu errichten. Auf dem Lafayette Square hinter dem Weißen Haus in Washington wurden z.B. zwei Statuen französischer Generäle aus dem Unabhängigkeitskrieg aufgestellt. Das haben andere Gruppen wie eben die Deutschamerikaner mitbekommen und forderten auch eine Steuben-Statue, die 1902 vom Kongress auch beschlossen wurden. Das haben auch ausländische Mächte, wie das Deutsche Reich bemerkt und sind in diesen etwas verworrenen Prozess der Statuensetzungen und -geschenke eingestiegen, wodurch die Prestigekonkurrenz verschiedener ethnischer Gruppen auch zu einer diplomatischen Prestigekonkurrenz wurde. Das Deutsche Reich schenkte den USA eine Statue von Friedrich dem Großen: ein wenig durchdachtes Geschenk, das in den USA auch eher schlecht ankam – immerhin war Friedrich ein absoluter Monarch! Die Statue wurde von der amerikanischen Regierung nicht im Stadtraum, sondern sehr diskret in der Kriegsakademie aufgestellt, dazu wurde die Aufstellung noch über zwei Jahre verzögert; die Statue wurde also eher versteckt. Erst 1910 bekamen die Deutschamerikaner ihre Steuben-Statue, die sie und sicherlich auch die US-Regierung als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur amerikanischen Nation verstanden. Eine Kopie der Statue haben die USA dann wiederum als diplomatisches Gegengeschenk zur Friedrichstatue dem Deutschen Reich geschenkt. Diese Kopie wurde 1911 in Potsdam eingeweiht. Da sieht man, wie sich deutschamerikanisches Prestigestreben mit deutsch-amerikanischer Diplomatie überschnitt. Die gleiche Steuben-Statue wurde zudem in Potsdam und Washington mit ganz unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen: Für die Deutschamerikaner ehrten beide Statuen ihren Ethnic Hero und damit mittelbar eigentlich die Gruppe der Deutschamerikaner als Ganzes, für die Deutsche Reichsregierung jedoch war die Potsdamer Statue ein Symbol einer vermeintlich immer schon bestehenden deutsch-amerikanischen Freundschaft.

Wie hast du die Details dieser Geschichte recherchiert?

Nach Washington reisen konnte ich leider nicht, ich habe daher alles in Berliner Archiven recherchiert. Meine Quellen waren vor allem Depeschen zwischen der Botschaft in Washington und der Regierung in Berlin, die ich im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes einsehen konnte. Außerdem habe ich im Geheimen Staatsarchiv recherchiert. Ich habe unter anderem herausgefunden, dass die Statuen dem Kaiser und seinem Stab deutlich wichtiger waren, als man annehmen würde. Wilhelm der Zweite hat sich ziemlich detailliert damit beschäftigt: Die Idee zur Friedrichstatue geht direkt auf ihn zurück, den Aufstellungsort der Steubenstatue in Potsdam hat er persönlich ausgesucht, er stellte seinen Hofarchitekten zur Umgestaltung des Platzes zur Verfügung, und an die Ränder der Depeschenentwürfe schrieb er launige Kommentare (die ich mal mehr, mal weniger gut entziffern konnte).

Es ist bestimmt faszinierend, Dokumente in der Hand zu halten, auf denen Wilhelm der Zweite mit seinem Füllfederhalter herumgekritzelt hat …

Absolut, wobei Wilhelm der Zweite nicht mit Tinte, sondern mit Bleistift geschrieben hat. Die Beamten und Diplomaten hatten damals einen ziemlich bürokratisierten Schreibstil, der für Wilhelm natürlich nicht galt. Dadurch war es sehr leicht zu erkennen, was der Kaiser selbst geschrieben hatte: Er schrieb frei von der Leber weg.

Vor einigen Wochen warst du nun in den USA, um für deine Arbeit im SFB zu recherchieren. Wo warst du genau und was hast du gesucht und hoffentlich gefunden?

Ich war zweieinhalb Monate in den USA, vor allem in Washington, danach aber auch noch in Wilmington, Delaware, und in Hyde Park, New York. Unser Teilprojekt untersucht den Zusammenhang von Sozialpolitik und Protektionismus in den USA und Argentinien, ich bin für die Periode 1890 bis 1970 in den USA zuständig. Die Frage war: Bekomme ich diesen Zusammenhang, der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion etabliert ist, auch geschichtswissenschaftlich aufgezeigt? Ein geschichtswissenschaftlicher Zugewinn wäre, entsprechende Dokumente zu finden, aus denen hervorgeht, dass die politischen Akteur:innen tatsächlich diesen Zusammenhang diskutiert haben, also z.B. die Zölle zu erhöhen, um damit Sozialleistungen zu finanzieren. Ich habe danach gesucht - aber ich habe dazu nichts gefunden, oder höchstens in Ansätzen.

Wo hast du nach Belegen gesucht?

Ich war in einer ganzen Reihe von Archiven. In der Library of Congress, im Hagley-Archiv in Wilmington, in der Franklin Roosevelt Presidential Library in Hyde Park, in der New York Public Library und im Archiv der Dachgewerkschaft AFL-CIO, das an der University of Maryland untergebracht ist. Die meiste Zeit habe ich aber in den National Archives in Washington, bzw. in College Park, verbracht. Da habe ich überwiegend Ministerialakten der Handels-, Außen- und Arbeitsministerien durchforstet. Die Zollpolitik ist gut nachzuvollziehen, da die Zuständigkeit klar ist. Bei der Sozialpolitik ist das nicht der Fall, was die Recherche ungemein erschwert. Auf Bundesebene gab es bis zum New Deal so gut wie keine allgemeingültige Sozialpolitik. Es gab die Veteranenversorgung, die über ihre Finanzierung grob mit den Zöllen zusammenhängt. Seit den 1960er Jahren gibt es in den USA mit Trade Adjustment Assistance (TAA) ein Sozialprogramm, das sich die Belegschaft von Unternehmen unterstützt, die durch internationale Konkurrenz in Bedrängnis geraten sind: Die Leistungen umfassten Umschulungsangebote, Unterstützung bei Relocation und ähnliches. Das ist interessant und bisher von der Geschichtswissenschaft kaum erforscht, aber ich war nicht sicher, ob ich darauf eine Dissertation aufbauen könnte.

Wann hast, du gemerkt, dass du nicht richtig fündig wirst?

Schon bevor ich in die USA gereist war. Ich hatte mir die Archivkataloge vorher angeschaut.

In wieweit sind die Akten dort digital durchsuchbar?

In den USA geht das sehr gut. Die Kataloge sind fast immer online. In den National Archives sind bei ganz zentralen Datensätzen sogar manchmal die gesamten Dokumente eingescannt und online verfügbar. Die kann ich also von Bremen aus lesen. Aber das gilt nur für extrem wichtige Dokumente. Für den Hauptteil der Bestände sind immerhin die Finding Aids digital verfügbar. Meistens bekommt man bis auf die Ebene der einzelnen Ordner angezeigt, was in einer Archivbox drin ist. Da steht dann z.B., dass die Ordner die Protokolle des Komitees XY in einem bestimmten Zeitraum enthalten, und wenn man Glück hat, gibt es noch einen Absatz dazu, worüber dort gesprochen wurde. Das ist also absoluter Luxus.

Ich hatte also schon in Bremen meine Zweifel, dass ich genügend Material finde. Gleichzeit war klar, dass ich vor Ort niemals das gesamte Material sichten können würde - hunderte Archivboxen mit jeweils hunderten von Seiten. Es wäre illusorisch, sich das alles anzuschauen. Daher hatte ich vor meiner Reise überlegt, ob ich nicht nach etwas anderem schauen könnte. So kam es auch: Jetzt untersuche ich protektionistische Pressure Groups, also Organisationen, die sich für hohe Zölle einsetzen. In der historischen Literatur tauchen diese Organisationen zwar auf, stehen aber meist am Rand. Die Literatur über Zollpolitik stammt oft von Politikwissenschaftler:innen und Ökonom:innen. Beide haben den Pressure Groups nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Meine erste Recherche hat aber gezeigt, dass sie unglaublich aktiv waren. Seit den 1880er-Jahren gab es ein starkes Bestreben, Protektionismus in die Öffentlichkeit zu bringen. Das wurde auch mit viel Geld betrieben, zum Beispiel von der Eisen- und Stahlindustrie.

Kamen diese Forderungen nach mehr Protektionismus nur von den Arbeitgeberverbänden oder auch von Gewerkschaften?

Bei den Verbänden geht es ziemlich eindeutig um die Interessen des Kapitals. Der größte Verband, den ich untersuche, ist die American Protective Tariff League, gegründet 1885. Zusammen mit einer studentischen Mitarbeiterin habe ich schon genauer geschaut, wer darin die Akteure waren: Kapitalisten und republikanische Parteipolitiker. Zollpolitik war Lagerpolitik in jener Zeit: Die Demokraten waren für niedrige Zölle, die Republikaner für hohe Zölle. Als die American Protective Tariff League gegründet wurde, tobten in den USA schwere Arbeitskämpfe, die Unternehmer waren also alles andere als arbeitnehmerfreundlich. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch protektionistische Bestrebungen in der Arbeiterschaft gab oder dass man nicht versucht hätte, die Arbeiter:innen für protektionistische Positionen zu gewinnen. Erstaunlicherweise tauchten in den Pamphleten und Flugblättern der Pressure Groups relativ häufig die Interessen der amerikanischen Arbeiterschaft auf: Der amerikanische Lebensstandard und die relativ hohen Löhne im Vergleich zu Europa hängen, so das Argument, an dem Schutz durch hohe Zölle. Bricht dieser Schutzwall, würden die USA geflutet von europäischen Billigimporten, wodurch eben auch der amerikanische Arbeiter diesen „großartigen“ Wohlstand nicht mehr genießen könne. In der Zollfrage bestehe zwischen Unternehmern und Arbeitern also Interessensgleichheit, so zumindest die Argumentation. Dazu kommt dann oft noch das klassische Argument der Infant Industry: Man müsse junge Industriezweige unter dem Schutz hoher Zölle aufbauen; sobald die Industrie konkurrenzfähig ist, brauche es den Zollschutz nicht mehr. Dieses Argument war dann allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend obsolet, da die Industrie der USA der europäischen Konkurrenz in sehr vielen Bereichen überlegen war.

Es gab also aus Sicht der USA durchaus gute Gründe, den Protektionismus zu reduzieren.

Absolut, vor allem natürlich in Branchen, die starkes Exportinteresse hatten. Das hat übrigens auch innerhalb des republikanischen Lagers zu Spannungen geführt hat: Einige Industrielle forderten niedrigere Zölle, damit die USA im Gegenzug bessere Exportmöglichkeiten bekämen. Ich verfolge die American Protective Tarrif League von den 1880er-Jahren bis ca. 1960. In dieser Zeit verändert sich deren politisches Umfeld radikal: Die USA beginnen ab 1934, den Protektionismus abzubauen, und werden nach dem 2. Weltkrieg schnell zur treibenden Kragt der internationalen Handelsliberalisierung. Schon vorher gab es erste Versuche einer Zollreform. Die USA wandelten sich von einem Hoch- zu einem Niedrigzollland. Ich bin gespannt, wie Organisationen wie die American Protective Tarrif League mit diesem Wandel umgegangen sind. Das sind ja Organisationen, die sich gerühmt haben, die öffentliche Debatte zu bestimmen und sogar Präsidenten ins Amt zu bringen. Sie sahen sich an den Hebeln der Macht. Einige Jahrzehnte später sind sie in der totalen Opposition. Ich möchte mir anschauen, ob und wie sich die Argumentation daraufhin wandelte. Wieviel bleibt noch von der Argumentation übrig? Wie wandelt sich die Ideologie? Welche personellen Kontinuitäten gibt es, welche Branchen bleiben oder werden aktiv? Kommen irgendwann auch Arbeiter und Gewerkschaften dazu? Außerdem interessiere ich mich für die Mittel der Agitation. Ich möchte untersuchen, wie man versucht hat, ein doch eher technisch-abstraktes Thema wie Zollpolitik so zu popularisieren, dass es auch breitere Schichten anspricht. Daraus ergibt sich dann natürlich auch die Frage, warum das zu manchen Zeiten besser und zu anderen beinahe gar nicht mehr funktioniert hat.

Hast du schon genug Material sammeln können, oder musst du noch einmal los?

Ich möchte natürlich gerne noch einmal auf Archivreise gehen. Aber ich habe schon sehr viel Material gesammelt – wahrscheinlich mehr als ich überhaupt im Detail lesen kann. Derzeit arbeite ich an meinem Dissertationsproposal: Wenn ich an die Detailplanung gehe, könnte es sein, dass ich feststelle: Hier oder da sind noch einige Lücken, die ich bei einer zweiten Rechercherunde schließen muss. Aber bevor ich zu einer zweiten Reise aufbreche, sind erst einmal die anderen Projektmitglieder dran.


Kontakt:
Fritz Kusch
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Fachbereich Sozialwissenschaften
Universitäts-Boulevard, GW2
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58581
E-Mail: kusch@uni-bremen.de

Dr. Gregor Wiedemann
Dr. Gregor Wiedemann
Gregor Wiedemann gab bei uns kürzlich einen Workshop zur KI-basierten Analyse großer Textmengen. Im Interview erläutert der Experte für Computational Social Sciences, welche Möglichkeiten dieser Ansatz den Sozialwissenschaften eröffnet.

Lieber Gregor Wiedemann, welche Anwendungen von Natural Language Processing, also der auf künstlicher Intelligenz basierten, automatisierten Text- und Sprachverarbeitung, beobachten Sie gegenwärtig in der Wissenschaft und besonders in den Sozialwissenschaften?

Ein Schwerpunkt von Anwendungen des Natural Language Processing in der Sozialwissenschaft ist die Auswertung sehr großer Textmengen für automatische Inhaltsanalysen. Damit werden beispielsweise Debatten in den Sozialen Medien oder über viele Nachrichtenmedien hinweg, die händisch nicht zu bewältigen wären, für die Forschung zugänglich.

Wobei nutzen Sie persönlich gerade NLP?

Ich arbeite zurzeit an NLP-Verfahren für die Auswertung von Argumentstrukturen in Twitterdebatten. Dabei beobachten wir unter anderem, wie sich der öffentliche Diskurs zum Einsatz von Atomenergie in den letzten Jahren verändert hat. Beispielsweise spielen Umweltaspekte viel öfter eine Rolle in der Argumentation pro Atomkraft, was eine deutliche Veränderung zu den vorangegangen Dekaden darstellt. In einem zweiten Projekt extrahieren wir Protestereignisse wie Demonstrationen, Kundgebungen oder Streiks aus Lokalmedien und bereiten diese Daten für die Protestereignisforschung auf.

Nehmen wir an, ich habe in meinem Projekt zehntausende Textdokumente gesammelt, die ich auswerten möchte. Wie kann mir Natural Language Processing dabei helfen?

Bleiben wir beim Beispiel der Protestereignisforschung. Hier berichtet beispielsweise eine lokale Zeitung über eine Pegida-Kundgebung in Dresden. Um diese Berichterstattung automatisiert zu finden, setzen wir ein Klassifikationsverfahren ein, dass automatisch erkennt, ob in Artikeln, in denen das Wort "Pegida-Proteste" vorkommt, über ein Protestereignis berichtet oder das Wort nur in einem allgemeineren Kontext verwendet wird. Damit können wir zuverlässig nur solche Artikel aus der großen Menge aller Zeitungsberichte, die diese Schlagwörter enthalten, identifizieren, die tatsächlich über Protestereignisse berichten. In einem zweiten Schritt extrahieren wir aus diesen Artikeln automatisch Angaben wie Motto, Teilnehmerzahl und Veranstalter. Am Ende entsteht ein strukturierter Datensatz über alle lokalen Protestereignisse aus vier Lokalzeitungen der letzten 20 Jahre, der dann von Politikwissenschaftler:innen ausgewertet werden kann.

Welche Voraussetzungen müssen meine Textdaten erfüllen, damit ich sie mit Hilfe von Natural Language Processing analysieren kann?

Idealerweise kommen die Trainingsdaten für ein Modell aus derselben Grundgesamtheit wie die Zieldaten. Die Texte müssen zudem natürlich in digitaler Form vorliegen und sie sollten nicht allzu sehr von der Normsprache abweichen. Das heißt, zum Beispiel Transkripte gesprochener Sprache, die einen starken Slang abbilden, oder historische Dokumente, die eine sehr alte Sprache verwenden, können mitunter Probleme verursachen. Aber dafür gibt es Lösungen. In diesen Fällen müssen die zum Einsatz kommenden Sprachmodelle für die Zieldomäne angepasst werden. Mittlerweile ist es übrigens leicht möglich, multi-linguale Korpora (z.B. Deutsch und Englisch) in ein und derselben Analyse zu verwenden, oder mit englischen Trainingsdaten gute Vorhersagen für deutsche Zieldaten zu machen.

Und welche Voraussetzungen muss ich als Wissenschaftler:in mitbringen, um mit NLP zu arbeiten? Wie viel Programmierkenntnis brauche ich bzw. andere relevante Vorkenntnisse?

Seit einigen Jahren werden NLP-Verfahren vor allem auf Basis von vielschichtigen neuronalen Netzen eingesetzt (auch bekannt als "deep learning"), da diese eine deutlich bessere Leistungen erzielen als frühere Ansätze, die auf beispielsweise Wortlisten basierten. Um diese neuronalen Netze für große Textmengen zum Einsatz zu bringen, ist es notwendig sich mit bestimmten Programmbibliotheken auseinanderzusetzen, die in der Regel für die Skriptsprache Python geschrieben sind. Mittlerweile gibt es auch erste sogenannte R-Wrapper, welche die Funktionalitäten der Python-Bibliotheken in der Programmiersprache R verfügbar machen. Um die Programmierung eigener Auswertungsskripte  kommt man derzeit allerdings nicht herum.

Bevor ich meine Textdaten analysieren kann, muss ich dem Algorithmus mitteilen, wonach er suchen muss und was er mit dem Gefundenen anstellen soll. Wie macht man das?

Um einer Maschine beizubringen, welche Texte sie aus einer großen Menge als relevant herausfiltern soll, in welche Kategorien sie einen Text einsortieren oder welche Informationen sie aus einem Dokument extrahieren soll, muss ich ihr anhand von Beispielen beibringen, wie diese Informationen aussehen. Hierzu wird ein Trainingsdatensatz erstellt, der typischerweise einige hundert oder tausend positive und negative Beispiele für die Zielkategorie enthält. Mit neuen Technologien des sogenannten Few Shot Learning genügen bereits deutlich weniger Beispiele, um ein vortrainiertes neuronales Netz auf eine Zielkategorie hin zu trainieren.

Wie muss mein Trainingsdatensatz aussehen, damit die Qualität der Auswertung anschließend hoch und verlässlich ist?

Die Trainingsdaten für das Trainieren eines NLP-Modells sollte möglichst vollständig und möglichst einheitlich kodiert sein. Vollständig bedeutet, dass für alle dem Modell präsentierten Entitäten (Worte, Sätze oder Dokumente) eine bewusste Kategorie-Entscheidung vorliegt. Einheitlich (bzw. reliabel) bedeutet:  Wenn mehrere Codierer einen Datensatz erstellen, müssen diese in denselben Fällen auch möglichst zu demselben Urteil über die Kategoriezuordnung gelangen. Bekommt die Maschine nämlich inkonsistente Trainingsdaten präsentiert, ist sie nicht in der Lage, eine Kategorie adäquat zu lernen.

Woran kann ich, dass das NLP in meinem Fall verlässlich funktioniert?

Um zu erkennen, ob ein NLP-Modell verlässlich funktioniert, wird es mit Testdaten getestet. Bei Testdaten handelt es sich, genau wie bei Trainingsdaten, um händisch codierte Texte. Die Vorhersagen eines trainierten Modells auf den Testdaten werden anschließend mit den händisch codierten Kategorien verglichen. So ist eine Aussage über die Qualität der automatischen Vorhersage möglich.

Die technische Entwicklung in diesem Fall ist sicher rasant. Welche Entwicklungen gab es in den letzten Jahren, die das NLP besonders vorangebracht haben?

Wir erleben tatsächlich gerade einen rasanten Fortschritt im Bereich der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Textverstehens mit sogenannten großen Sprachmodellen (Large Language Models). Jüngstes Beispiel ist ChatGPT von der Firma OpenAI. Dieses Sprachmodell ist in der Lage, Anfragen und -antworten von Nutzer:innen zu verstehen und so eine menschenähnliche dialogische Kommunikation zu erzeugen.

Welche Grenzen hat das NLP aus Ihrer Sicht?

Obwohl Sprachmodelle derzeit bereits beeindruckende Leistungen vollbringen, indem sie das in ihnen gespeicherte Wissen Nutzer:innen in dialogischer Form präsentieren, fehlt ihrer internen Struktur symbolisch-logische Wissensrepräsentation, die von außen transparent nachvollziehbar ist. Ziel aktueller Forschung ist es, diese "Black Box" innerhalb neuronaler Netze dekodierbar zu machen und damit auch dafür Sorge zu tragen, dass mehr formal korrektes und besser validiertes Wissen in diesen Modellen gespeichert werden kann.

---

Über Dr. Gregor Wiedemann

Dr. Gregor Wiedemann ist Senior Researcher Computational Social Science am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI), wo er mit Sascha Hölig das Media Research Methods Lab (MRML) leitet. Seine aktuellen Arbeitsschwerpunkte liegen in der Entwicklung von Verfahren und Anwendungen von Natural Language Processing und Text Mining für die empirische Sozial- und Medienforschung.

Wiedemann studierte Politikwissenschaft und Informatik in Leipzig und Miami. 2016 promovierte er an der Universität Leipzig im Fach Informatik in der Abteilung Automatische Sprachverarbeitung zu den Möglichkeiten der Automatisierung von Diskurs- und Inhaltsanalysen mit Hilfe von Text Mining und Verfahren des maschinellen Lernens. Im Anschluss arbeitete er als Postdoc in der Abteilung Language Technology der Universität Hamburg.

Dabei entstandene Arbeiten beschäftigen sich unter anderem mit Methoden zur unüberwachten Informationsextraktion für die Unterstützung investigativer Recherchen in unbekannten Dokumentbeständen (siehe newsleak.io) und mit der Erkennung von Hass- und Gegenrede in sozialen Medien.

Bis zur Übernahme der Leitung des MRML arbeitete er im DFG-Projekt "A framework for argument mining and evaluation (FAME)", das sich mit der automatischen Erkennung und Auswertung wiederkehrender Argumentstrukturen in empirischen Texten beschäftigt.

(Quelle der Kurz-Biografie: Hans-Bredow-Institut)

Prof. Dr. Ali Akbar Tajmazinani
Prof. Dr. Ali Akbar Tajmazinani
Der SFB-Gastwissenschaftler Ali Akbar Tajmazinani hat erste Ergebnisse seiner Typologie der Wohlfahrtssysteme in muslimischen Gesellschaften vorgestellt.

Im Rahmen der Jour-Fixe-Vortragsserie hat Ali Akbar Tajmazinani von der Allameh-Tabataba'i-Universität in Teheran erste Zwischenergebnisse seines aktuellen Forschungsschwerpunkts vorgestellt: eine Typologie der Wohlfahrtssysteme in muslimischen Gesellschaften.

Dazu hat Tajmazinani Daten zu Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung gesammelt: Daten zu sozialpolitischen Input- und Outputfaktoren (u.a. öffentliche Gesundheits-, Sozialschutz- und Bildungsausgaben; Bildungsniveau; Ausmaß universeller Gesundheitsversorgung; Human Development Index; Wohlstandsverteilung), dem BIP pro Kopf, dem Anteil von natürlichen Ressourcen und Remittances am BIP.

Ein Clusteranalyse ergab 7 Ländergruppen, die sich hinsichtlich sozialstaatlichem In- und Output sowie der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen unterschieden. Die relevantesten Faktoren für ein hohes Wohlstandsniveau erwiesen sich die Höhe des BIP pro Kopf und die gesellschaftliche Stabilität. Tajmazinani wird seine Typologie weiter verfeinern.

Tajmazinani ist Associate Professor an der Allameh-Tabataba'i-Universität in Teheran und forscht zu Sozialpolitik in muslimischen Gesellschaften. Er verbringt ein einjähriges Sabbatical in Deutschland und kooperiert u.a. mit dem SOCIUM und dem SFB 1342.

Martín war in der ersten Förderphase Mitglied des SFB 1342 und hat in seiner Arbeit untersucht, welchen Einfluss das koloniale Erbe auf die sozialpolitischen Entwicklungen Mexikos und Argentinien genommen hat.

Martín Cortina Escudero hat am Mittwoch, den 23. November 2023, seine Doktorarbeit erfolgreich verteidigt. Martín war Mitglied des SFB 1342 in der ersten Förderperiode und arbeitete im Projekt International Complementarities in the Development of the Welfare State. The Transatlantic Sphere (1870-2020), geleitet von Philip Manow und Sarah Berens.

Für seine Dissertationsmonographie "Diverging Paths of Social Policy Development in Latin America States: A Case Study on Argentina and Mexico from the Colonial Times to the Early Post-World-War-II Period" untersuchte Martín die internationalen Faktoren, die zu den abweichenden sozialpolitischen Entwicklungen der beiden Länder in der Zeit vom Kolonialismus bis in die 1960er Jahre beitrugen.

Martín ging von der Forschungsfrage aus: "Warum führten ähnliche Pfade zu unterschiedlichen sozialpolitischen Ergebnissen in Argentinien und Mexiko?" Bei seiner Literaturrecherche konnte er keine plausiblen Erklärungen für die unterschiedlichen sozialpolitischen Entwicklungen in den lateinamerikanischen Ländern finden. Daher wählte Martín die Beispiele Argentinien und Mexiko, um seine Hypothese zu testen, dass das koloniale Erbe ein Schlüsselfaktor ist. Er untersuchte historische Dokumente, Parlamentsdebatten und Sekundärquellen, um seine Hypothese zu testen, und wandte dabei einen Methodenmix an, der Process Tracing, Qualitative Comparative Analysis und deskriptive Statistik kombiniert.

Martín zufolge durchliefen Mexiko und Argentinien ähnliche historische Phasen - den Übergang zum modernen Kapitalismus (1810-1910), die Übernahme eines Primärexportmodells (1910-1940) und einen Industrialisierungsprozess mit Schwerpunkt auf der Importsubstitution (1940-1960). Diese Phasen führten bis zu einem gewissen Grad zu einer gewissen Konvergenz in der sozialpolitischen Entwicklung der Länder.

Die kolonialen Hinterlassenschaften beider Länder haben andererseits den Boden für die Unterschiede in ihren sozialpolitischen Systemen bereitet: Mexiko mit seinem Reichtum an Edelmetallen und seiner großen indigenen Bevölkerung stand sehr stark im Fokus des spanischen Imperiums, das daher starke koloniale Strukturen in Mexiko implementierte. In Argentinien war das Gegenteil der Fall, denn das Land war ressourcenarm und dünn besiedelt, so dass das spanische Imperium weniger Geld und Anstrengungen für die Einführung hierarchischer Kolonialstrukturen aufbrachte. Diese Unterschiede legten den Grundstein dafür, dass sich in Argentinien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein politisches Regime mit konkurrierenden Parteien entwickelte, während in Mexiko ein autoritäres Regime entstand.

Diese Unterschiede in den Regimetypen, verstärkt durch den unterschiedlichen Einfluss der Arbeiterklassen/Gewerkschaften auf die politischen Entscheidungsprozesse, haben die sozialpolitischen Entscheidungen sowohl in Mexiko als auch in Argentinien geprägt, hat Martin festgestellt. Die argentinische Sozialpolitik war vergleichsweise umfangreich und stratifiziert, während die mexikanische Sozialpolitik eher beschränkt war und Beschäftigte im Staatsdienst privilegierte.

Nach seiner Präsentation erhielt Martín vom Prüfungsausschuss wertvolle Rückmeldungen und Kritik zu seiner Arbeit, die er berücksichtigen wird, bevor er sie bei einem wissenschaftlichen Verlag zur Veröffentlichung einreicht.

Dr. Jan Helmdag
Dr. Jan Helmdag
Jan Helmdag vom Swedish Institute for Social Research ist zu Gast am SFB 1342. Bei einem Vortrag zu statistischen Analysen von Arbeitsmarktreformen wies er auf einige Fallstricke hin.

Dr. Jan Helmdag vom Swedish Institute for Social Research (SOFI) in Stockholm ist derzeit zu Gast beim SFB 1342. Am SOFI arbeitet Jan Helmdag u.a. an der Social Policy Indicators Database (SPIN), die institutionelle Daten zu verschiedenen Dimensionen von sozialpolitischen Programmen enthält. Während seines Besuchs in Bremen hat Helmdag einen Vortrag in der Jour-fixe-Vortragsreihe gehalten und bei einem Workshop der SFB-internen Arbeitsgruppe zu Cash-Benefits mitgearbeitet.

Bei seinem Jour-fixe-Vortrag präsentierte Helmdag die Ergebnisse seiner Doktorarbeit, die er an der Universität Greifswald geschrieben hat, vor Mitgliedern des SFB 1342, des SCOCIUM und der BIGSSS. Für seine Arbeit hat Helmdag 255 quantitativen Studien zu Arbeitsmarktreformen weltweit zwischen 1963 und 2021 analysiert. Sein Augenmerk lag auf der ideologischen Verortung der Regierungen einerseits und andererseits auf den Auswirkungen der Arbeitsmarktreformen auf die Generosität der Arbeitsmarktpolitik (gemessen an den Ausgaben für Instrumente der Arbeitsmarktpolitik und an den Lohnersatzraten).

Während die statistische Analyse aller 255 Studien zusammen – Helmdag spricht hier von einer "One-Size-fits-all"-Analyse – ein relativ einheitliches Bild ergab ("There is robust evidence for classical partisanship", d.h. linke Regierungen erhöhten tendenziell die Ausgaben und die Lohnersatzraten, während rechte Regierungen beides tendenziell kürzten), ergab die länderspezifische Analyse ein uneinheitliches Bild:

Bei der Ausgabenhöhe sind Reformen der aktiven Arbeitsmarktpolitik überwiegend durch "new politics" charakterisiert, Reformen der passiven Arbeitsmarktpolitik sind durch alle drei Gesichter der Parteilichkeit ("three faces of partisanship") geprägt: classical partisanship, reversed partisanship und new politics. Volkswirtschaftliche Faktoren wie Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeitsraten hatten einen großen Einfluss auf die Höhe der Ausgaben, politische Institutionen hingegen nicht. Auch bei der Höhe der Lohnersatzraten zeigten sich alle "faces of partisanship", wobei Regierungskonstellationen und "Veto players" eine größere Rolle spielten als volkswirtschaftliche Faktoren.

Helmdag schließt aus seiner Untersuchung, dass Erklärmodelle, die auf One-size-fits-all-Analysen beruhen, sehr irreführend sein können, vor allem, wenn sie sich auf einen langen Zeitraum beziehen. Länderspezifische Analysen hingegen bieten wertvolle Einblicke, um die Modelle zu verbessern.

Mehr zu Jan Helmdag und seiner Arbeit finden Sie auf seinem Profil bei Researchgate und auf seinem Profil beim SOFI.

Dr. Ali Akbar Tajmazinani
Dr. Ali Akbar Tajmazinani
Tajmazinani ist Associate Professor an der Allameh-Tabataba'i-Universität in Teheran und forscht zu Sozialpolitik in muslimischen Gesellschaften. Er verbringt ein einjähriges Sabbatical in Deutschland und kooperiert u.a. mit dem SOCIUM und dem SFB 1342.

Ali Akbar Tajmazinani ist Experte für Sozialpolitik im muslimisch geprägten Gesellschaften. "Etwa zwei Milliarden Menschen sind muslimischen Glaubens und stellen die Bevölkerungsmehrheit in rund 40 Ländern der Welt. Dennoch sind diese Länder in der vergleichenden sozialpolitischen Literatur praktisch unsichtbar", sagt Tajmazinani. Er arbeitet daran, diese Lücke zu schließen. 2021 hat er den Sammelband Social Policy in the Islamic World herausgegeben, der bei Palgrave Macmillan erschienen ist. Darin analysiert Tajmazinani den Koran und andere grundlegende Texte hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Sozialpolitik in mehrheitlich muslimischen Staaten. Zudem versammelt der Band Fallstudien zu acht Ländern.

Ali Akbar Tajmazinani hat die letzten zwei Monate am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) verbracht und zu Nahrungsmittelsubventionen und dem kürzlich eingeführten Cash-Transfer-Programm in Iran gearbeitet. Bis Ende des Jahres ist Tajmazinani nun als Gast des SOCIUM und des SFB 1342 vor Ort in Bremen.

Tajmazinani wird vor allem an einer Typologie von Wohlfahrtssystemen islamischer Gesellschaften arbeiten. Zu diesem Thema wird er einen Beitrag für die SOCIUM SFB 1342 Working Paper Series schrieben und am 7. Dezember einen öffentlichen Vortrag halten.

Die Kooperation mit dem SFB 1342 soll über das Jahr 2022 hinaus fortgesetzt werden.

Suchergebnis: