Helen Seitzer, Dennis Niemann und Kerstin Martens haben untersucht, welche Rolle das Thema "PISA" in bildungspolitischen Pubilkationen der OECD spielt: gar keine so große. Warum PISA trotzdem seinen Siegeszug antrat, erklärt Seitzer im Interview.Für ihr Paper haben Helen Seitzer, Dennis Niemann und Kerstin Martens fast alle zwischen 1961 und 2018 veröffentlichten Dokumente untersucht, die in der Online-Bibliothek der OECD mit dem Stichwort "Bildung" gekennzeichnet sind. Dabei stellten sie fest, dass PISA in diesen Publikationen keineswegs ein so dominantes Thema ist, wie man angesichts der Popularität von PISA in den Massenmedien wie auch in der wissenschaftlichen Diskussion vermuten könnte. "Der Großteil der OECD-Publikationen befasst sich überhaupt nicht mit PISA oder der weiterführenden Schulbildung. Die meisten Publikationen zum Thema Bildung befassen sich mit Finanzen, Management oder dem Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt", schreibt das Autor*innenteam. Die Erstautorin Helen Seitzer erläutert die Ergebnisse im Interview.
---
Wenn du den Anteil der OECD-Publikationen beziffern müsstest, in denen PISA diskutiert wird - wie hoch wäre dieser?
Helen Seitzer: Viele OECD-Publikationen zum Thema Bildung enthalten in der einen oder anderen Weise Verweise auf PISA, aber der Gesamtanteil der Berichte, in denen PISA allein besprochen wird, liegt bei etwa 10 % bis 17 % aller Publikationen, je nach dem Zeitraum der Analyse. Es gibt zwar ein paar Dokumente zu PISA, bevor PISA überhaupt begonnen hat (die Diskussion über PISA begann 1995), aber damals hieß es noch nicht PISA und die Publikationen wurden nicht ausdrücklich als solche gekennzeichnet.
Ist der Wert hoch oder niedrig im Vergleich zu anderen Bildungsthemen, die in OECD-Publikationen diskutiert wurden (und was waren diese anderen prominenten Themen)?
Seitzer: In der Bildungsforschung, die sich mit der OECD beschäftigt, scheint es so, als ob PISA das einzige Thema ist, auf das sich die OECD konzentriert. Manchmal scheint es, als ob sich Diskussionen über die "OECD" automatisch auf "PISA" beziehen. So gesehen ist der Prozentsatz der Dokumente, in denen nur über PISA diskutiert wird, wirklich gering. Die wenigen Studien, die andere Arbeiten der OECD analysieren, sind noch sehr begrenzt und beziehen sich oft auf PISA oder nehmen es als Ausgangspunkt für ihre Untersuchungen (so wie wir). Allerdings beschäftigt sich die OECD mit sehr viel mehr Themen als PISA, vor allem mit arbeitsmarktbezogenen Fragen, aber auch Management und Planung der Hochschulbildung zum Beispiel werden sehr oft diskutiert.
Eure Analyse umfasst den Zeitraum 1961 bis 2018. Ist der Anteil des Themas PISA innerhalb der OECD-Publikationen immer noch gering, wenn man die jüngeren Jahre, sagen wir seit 2000, betrachtet?
Seitzer: Wenn man nur die Dokumente seit 2000 einbezieht, macht PISA etwa 17% aller Dokumente aus. Das sind rund 90 Dokumente in 8 Jahren allein zu PISA. Die OECD ist in der Bildungspolitik unheimlich produktiv.
Welche anderen Themen tauchen in letzter Zeit in den OECD-Publikationen auf?
Seitzer: Im Laufe der Zeit ist das Volumen der behandelten Themen gestiegen, ähnlich wie die Anzahl der Publikationen pro Jahr. In letzter Zeit sind die Themen "Schulfinanzierung", "ICT-Kompetenzen", "Arbeitsmarktkompetenzen und berufliche Bildung" und "Arbeitsmarktregulierung und Erwachsenenbildung" häufiger diskutiert worden, um nur einige zu nennen. Es gibt eine Zunahme an Themen, die den "Skills"-Begriff beinhalten, aber auch von Themen, die speziell die Erwachsenenbildung betreffen. Tatsächlich sieht es so aus, als ob der obligatorische Teil der Bildung (Primar- und Sekundarstufe) nicht so sehr ins Gewicht fällt.
Sagt euch das etwas? Sind z.B. Verschiebungen zu sehen?
Seitzer: Seit der Gründung der OECD im Jahr 1961 hat sich die Welt sehr verändert, und damit auch die Organisation. Natürlich ändert sich daher im Laufe der Zeit, was diskutiert wird. Am Anfang lag der Fokus eher darauf darzustellen, wie Bildungssysteme aufgebaut sind und was die Länder brauchen, um ihre Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterstützen. Dann gab es um 1975 eine weitere Verschiebung des Schwerpunkts hin zur Hochschulbildung. Es wurden mehr Diskussionen über das Management der Hochschulbildung und die Innovation von Hochschulsystemen geführt als zuvor. Jetzt stehen Technologie (ICT) und Erwachsenenbildung stärker im Vordergrund. Die Arbeitsmarktorientierung war dabei jedoch immer präsent.
Lass uns einen Blick darauf werfen, warum PISA in der jüngeren Vergangenheit so viel Aufmerksamkeit erhalten hat und - was noch wichtiger ist - einen solchen Einfluss auf die Politikgestaltung hat. Was ist deine Erklärung?
Seitzer: In dem Papier diskutieren wir, dass PISA seinen Erfolg zum Teil der Organisationsform der OECD, dem Zeitpunkt, an dem die Studie eingeführt wurde, und der Strategie, die sie anwendet, verdankt. Die OECD hat ein ‚policy window‘ gefunden, als PISA gestartet wurde, und die geeignete Person, um PISA zu "verkaufen": Andreas Schleicher (‚Policy-Entrepreneur‘). Die OECD präsentierte eine Lösung für ein Problem (das sie selbst überhaupt erst als Problem definiert hatten) den richtigen Leuten, zur richtigen Zeit. Die Autorität der OECD, gepaart mit der Forderung nach evidenzbasierter Politikgestaltung, schuf die perfekte Gelegenheit um PISA zu etablieren.
Ist es richtig, zu sagen, dass die OECD selbst in die Schaffung dieses Gelegenheitsfensters investiert hat, um ihre eigene Position als etablierter Akteur in der Global Governance zu sichern?
Seitzer: Sie hatten definitiv ihre Hand im Spiel, um das policy window zu gestalten, indem sie Berichte veröffentlichten und die Effektivität des Bildungssystems problematisierten. Dies kann jedoch nicht der einzige Grund sein. Es gab andere IOs mit anderen Studien, die zeitgleich aktiv waren (und es immer noch sind), die aber nicht so erfolgreich sind. Die OECD hat sich als rationaler Akteur etabliert, um Einschätzungen von Schülerleistungen zu liefern, die von den Ländern durchgeführt werden müssen, um ernst genommen zu werden. Ihre Gestaltung von PISA und die Informationen, die sie liefern kann, aber auch das Netzwerk von Experten und politischen Entscheidungsträgern, über das die IO verfügt, sind sicherlich mitverantwortlich für den Erfolg von PISA. Die Beobachtung, dass die OECD in der Lage war, sich als Branchenführer zu etablieren und diese Position beizubehalten, macht es umso interessanter und wichtiger, die Aktivitäten und den Einfluss der IO zu untersuchen.
---
Lesen Sie das vollständige Paper (open access):
Helen Seitzer, Dennis Niemann & Kerstin Martens (2021): Placing PISA in perspective: the OECD’s multi-centric view on education. In: Globalisation, Societies and Education, DOI:10.1080/14767724.2021.1878017
Kontakt:Dr. Helen SeitzerSFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-57065
E-Mail:
seitzer@uni-bremen.de