Dr. Simon Gerards Iglesias, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1342, verfasste einen Beitrag in Beate Althammers Band „Citizenship, Migration and Social Rights. Historical Experiences from the 1870s to the 1970s”. Dieses wurde im Rahmen der Buchreihe "Routledge Studies in Modern History" veröffentlicht.
Die argentinische Sozialpolitik für Immigrant:innen in der Zwischenkriegszeit
Schon seit einiger Zeit haben die Spannungen zwischen Migration und Wohlfahrtsstaat heftige öffentliche und wissenschaftliche Debatten ausgelöst. Wenig wissen wir bislang über die historischen Zusammenhänge zwischen Zu- und Abwanderungen und der Auswirkungen und Bedeutungen in der Entstehungsphase moderner Wohlfahrtsstaaten. In einem neuen Sammelband erschienen bei Routledge soll dieser Frage aus transnationaler Perspektive über verschiedene Länder nachgegangen werden.
Simon Gerards Iglesias erörtert in seinem Kapitel die argentinische Einwanderungs- und Wohlfahrtspolitik der Zwischenkriegszeit, wobei er sich auf die für Europäer konzipierte Politik konzentriert. Er erinnert daran, dass Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein Kontinent der Massenauswanderung war, und zeigt auf, wie ein wichtiges Zielland - Argentinien - zur Globalisierung von Wohlfahrtsdiskursen beitrug, die ursprünglich eine ausschließlich europäische Angelegenheit waren. Neben den USA gehörte Argentinien zu den wenigen außereuropäischen Nationen, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg an internationalen sozialpolitischen Foren teilnahmen, und dieses Engagement verstärkte sich in der Zwischenkriegszeit. Gerards Iglesias argumentiert, dass Argentiniens Bemühungen in der internationalen sozialpolitischen Arena vor allem in dem Bestreben begründet waren, das Land nach dem Ersten Weltkrieg wieder für europäische Einwanderer attraktiv zu machen. Er veranschaulicht dies konkret am Beispiel der Arbeitsunfallentschädigung - jenem Zweig der sozialen Sicherheit, dessen Internationalisierung generell am schnellsten voranschritt. Gerards Iglesias weist aber auch auf die Ungereimtheiten in der argentinischen Migrationspolitik hin. So schloss die Regierung zwar mehrere bilaterale Abkommen mit europäischen Staaten über die Leistungen bei Arbeitsunfällen, ratifizierte aber das entsprechende ILO-Übereinkommen erst 1950. Und während sie einerseits auf der internationalen Bühne eine einwanderungsfreundliche Rhetorik an den Tag legte, erhöhte sie andererseits auf nationaler Ebene sukzessive die Hürden für potenzielle Einwanderer. Die politischen Eliten Argentiniens, so zeigt das Kapitel, waren hin- und hergerissen zwischen dem Für und Wider der Einwanderung, die in jedem Fall immer europäische Einwanderer bedeutete, während Migranten anderer als "weißer" europäischer Abstammung stets unerwünscht waren.
Veröffentlichung:
Hüther, Michael / Gerards Iglesias, Simon (2022): Wirtschaftliche Entwicklung durch Rückschritt – zu den Perspektiven der russischen Volkswirtschaft, in: Russland-Analysen, Nr. 426, S. 2-6.
Gerards Iglesias, Simon (2022): Inmigración y empresariado transnacional en Argentina a finales del siglo XIX. Los Weil y los Staudt, entre Alemania y Argentina". Cuadernos del Archivo VI/1, Nr. 10 (2022): 26-45.
Gerards Iglesias, Simon (2022): Argentinische Sozialpolitik und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), 1919-1943. Debatten, Konflikte und Kooperationen. Dissertation, Universität Bremen.
Simon Gerards Iglesias studierte Politische Ökonomie und Wirtschaftsgeschichte in Heidelberg, Göttingen und Buenos Aires. Von 2019 bis 2022 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 1342 und promovierte zur historischen Entwicklung des Sozialstaates in Argentinien bei Prof. Dr. Delia González de Reufels. Aktuell arbeitet er am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln.