Fritz Kusch (Foto: BIGSSS)
Fritz Kusch (Foto: BIGSSS)
Fritz Kusch sucht in US-Archiven nach Belegen für den Zusammenhang von Protektionismus und Sozialpolitik. Im Interview zieht er eine erste Bilanz und erinnert sich auch an Notizen Wilhelm des II., die er für seine Masterarbeit zu entziffern versuchte.

Lieber Fritz, du bist seit einem guten halben Jahr am SFB - was hast du davor gemacht?

Ich habe in Freiburg Geschichte im Hauptfach und Politikwissenschaften im Nebenfach studiert und mit einem Bachelor abgeschlossen. Während dieser Zeit war ich auch an einer Uni in Istanbul, wo ich die türkische Sprache kennen und schätzen gelernt habe. Ich habe auch angefangen, mich mit türkischer und osmanischer Geschichte zu beschäftigen. Das hat mich dann dazu bewogen, nach meinem Abschluss in Freiburg ein zweites Bachelorstudium zu beginnen: Turkologie an der Freien Universität Berlin.

Parallel zu deinem Turkologie-Studium hast du auch ein Masterstudium absolviert …

Ich habe einen Master in Geschichte gemacht mit dem Schwerpunkt Nordamerika. US-Geschichte war schon längere Zeit ein Steckenpferd von mir. Zwischen der nordamerikanischen und der türkisch-osmanischen Geschichte gibt es sehr wenige Anknüpfungspunkte, aber das sehe ich eigentlich eher als Chance: Es ist durchaus bereichernd, auch ganz andere Themen und Zusammenhänge zu betrachten. Dadurch bekommt man oft eine neue, frischere Perspektive auf die einzelnen Themen.

Worum ging es in deiner Masterarbeit?

Um zwei Statuen Friedrich Wilhelm von Steubens, die 1910 in Washington und 1911 in Potsdam errichtet wurden. Das Thema verbindet Erinnerungs-, Migrations- und Diplomatiegeschichte. Steuben war ein preußischer General, der im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat und für die deutschstämmige Bevölkerung in Amerika zu einem Ethnic Hero geworden ist. Eine Art symbolischer Repräsentant für den Status der Deutschamerikaner:innen in der amerikanischen Einwanderungsgesellschaft. Um die Jahrhundertwende haben sich verschiedene ethnische Gruppen in den USA dafür eingesetzt, Statuen ihrer jeweiligen Ethnic Heroes im öffentlichen Raum zu errichten. Auf dem Lafayette Square hinter dem Weißen Haus in Washington wurden z.B. zwei Statuen französischer Generäle aus dem Unabhängigkeitskrieg aufgestellt. Das haben andere Gruppen wie eben die Deutschamerikaner mitbekommen und forderten auch eine Steuben-Statue, die 1902 vom Kongress auch beschlossen wurden. Das haben auch ausländische Mächte, wie das Deutsche Reich bemerkt und sind in diesen etwas verworrenen Prozess der Statuensetzungen und -geschenke eingestiegen, wodurch die Prestigekonkurrenz verschiedener ethnischer Gruppen auch zu einer diplomatischen Prestigekonkurrenz wurde. Das Deutsche Reich schenkte den USA eine Statue von Friedrich dem Großen: ein wenig durchdachtes Geschenk, das in den USA auch eher schlecht ankam – immerhin war Friedrich ein absoluter Monarch! Die Statue wurde von der amerikanischen Regierung nicht im Stadtraum, sondern sehr diskret in der Kriegsakademie aufgestellt, dazu wurde die Aufstellung noch über zwei Jahre verzögert; die Statue wurde also eher versteckt. Erst 1910 bekamen die Deutschamerikaner ihre Steuben-Statue, die sie und sicherlich auch die US-Regierung als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zur amerikanischen Nation verstanden. Eine Kopie der Statue haben die USA dann wiederum als diplomatisches Gegengeschenk zur Friedrichstatue dem Deutschen Reich geschenkt. Diese Kopie wurde 1911 in Potsdam eingeweiht. Da sieht man, wie sich deutschamerikanisches Prestigestreben mit deutsch-amerikanischer Diplomatie überschnitt. Die gleiche Steuben-Statue wurde zudem in Potsdam und Washington mit ganz unterschiedlicher Bedeutung aufgeladen: Für die Deutschamerikaner ehrten beide Statuen ihren Ethnic Hero und damit mittelbar eigentlich die Gruppe der Deutschamerikaner als Ganzes, für die Deutsche Reichsregierung jedoch war die Potsdamer Statue ein Symbol einer vermeintlich immer schon bestehenden deutsch-amerikanischen Freundschaft.

Wie hast du die Details dieser Geschichte recherchiert?

Nach Washington reisen konnte ich leider nicht, ich habe daher alles in Berliner Archiven recherchiert. Meine Quellen waren vor allem Depeschen zwischen der Botschaft in Washington und der Regierung in Berlin, die ich im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes einsehen konnte. Außerdem habe ich im Geheimen Staatsarchiv recherchiert. Ich habe unter anderem herausgefunden, dass die Statuen dem Kaiser und seinem Stab deutlich wichtiger waren, als man annehmen würde. Wilhelm der Zweite hat sich ziemlich detailliert damit beschäftigt: Die Idee zur Friedrichstatue geht direkt auf ihn zurück, den Aufstellungsort der Steubenstatue in Potsdam hat er persönlich ausgesucht, er stellte seinen Hofarchitekten zur Umgestaltung des Platzes zur Verfügung, und an die Ränder der Depeschenentwürfe schrieb er launige Kommentare (die ich mal mehr, mal weniger gut entziffern konnte).

Es ist bestimmt faszinierend, Dokumente in der Hand zu halten, auf denen Wilhelm der Zweite mit seinem Füllfederhalter herumgekritzelt hat …

Absolut, wobei Wilhelm der Zweite nicht mit Tinte, sondern mit Bleistift geschrieben hat. Die Beamten und Diplomaten hatten damals einen ziemlich bürokratisierten Schreibstil, der für Wilhelm natürlich nicht galt. Dadurch war es sehr leicht zu erkennen, was der Kaiser selbst geschrieben hatte: Er schrieb frei von der Leber weg.

Vor einigen Wochen warst du nun in den USA, um für deine Arbeit im SFB zu recherchieren. Wo warst du genau und was hast du gesucht und hoffentlich gefunden?

Ich war zweieinhalb Monate in den USA, vor allem in Washington, danach aber auch noch in Wilmington, Delaware, und in Hyde Park, New York. Unser Teilprojekt untersucht den Zusammenhang von Sozialpolitik und Protektionismus in den USA und Argentinien, ich bin für die Periode 1890 bis 1970 in den USA zuständig. Die Frage war: Bekomme ich diesen Zusammenhang, der in der sozialwissenschaftlichen Diskussion etabliert ist, auch geschichtswissenschaftlich aufgezeigt? Ein geschichtswissenschaftlicher Zugewinn wäre, entsprechende Dokumente zu finden, aus denen hervorgeht, dass die politischen Akteur:innen tatsächlich diesen Zusammenhang diskutiert haben, also z.B. die Zölle zu erhöhen, um damit Sozialleistungen zu finanzieren. Ich habe danach gesucht - aber ich habe dazu nichts gefunden, oder höchstens in Ansätzen.

Wo hast du nach Belegen gesucht?

Ich war in einer ganzen Reihe von Archiven. In der Library of Congress, im Hagley-Archiv in Wilmington, in der Franklin Roosevelt Presidential Library in Hyde Park, in der New York Public Library und im Archiv der Dachgewerkschaft AFL-CIO, das an der University of Maryland untergebracht ist. Die meiste Zeit habe ich aber in den National Archives in Washington, bzw. in College Park, verbracht. Da habe ich überwiegend Ministerialakten der Handels-, Außen- und Arbeitsministerien durchforstet. Die Zollpolitik ist gut nachzuvollziehen, da die Zuständigkeit klar ist. Bei der Sozialpolitik ist das nicht der Fall, was die Recherche ungemein erschwert. Auf Bundesebene gab es bis zum New Deal so gut wie keine allgemeingültige Sozialpolitik. Es gab die Veteranenversorgung, die über ihre Finanzierung grob mit den Zöllen zusammenhängt. Seit den 1960er Jahren gibt es in den USA mit Trade Adjustment Assistance (TAA) ein Sozialprogramm, das sich die Belegschaft von Unternehmen unterstützt, die durch internationale Konkurrenz in Bedrängnis geraten sind: Die Leistungen umfassten Umschulungsangebote, Unterstützung bei Relocation und ähnliches. Das ist interessant und bisher von der Geschichtswissenschaft kaum erforscht, aber ich war nicht sicher, ob ich darauf eine Dissertation aufbauen könnte.

Wann hast, du gemerkt, dass du nicht richtig fündig wirst?

Schon bevor ich in die USA gereist war. Ich hatte mir die Archivkataloge vorher angeschaut.

In wieweit sind die Akten dort digital durchsuchbar?

In den USA geht das sehr gut. Die Kataloge sind fast immer online. In den National Archives sind bei ganz zentralen Datensätzen sogar manchmal die gesamten Dokumente eingescannt und online verfügbar. Die kann ich also von Bremen aus lesen. Aber das gilt nur für extrem wichtige Dokumente. Für den Hauptteil der Bestände sind immerhin die Finding Aids digital verfügbar. Meistens bekommt man bis auf die Ebene der einzelnen Ordner angezeigt, was in einer Archivbox drin ist. Da steht dann z.B., dass die Ordner die Protokolle des Komitees XY in einem bestimmten Zeitraum enthalten, und wenn man Glück hat, gibt es noch einen Absatz dazu, worüber dort gesprochen wurde. Das ist also absoluter Luxus.

Ich hatte also schon in Bremen meine Zweifel, dass ich genügend Material finde. Gleichzeit war klar, dass ich vor Ort niemals das gesamte Material sichten können würde - hunderte Archivboxen mit jeweils hunderten von Seiten. Es wäre illusorisch, sich das alles anzuschauen. Daher hatte ich vor meiner Reise überlegt, ob ich nicht nach etwas anderem schauen könnte. So kam es auch: Jetzt untersuche ich protektionistische Pressure Groups, also Organisationen, die sich für hohe Zölle einsetzen. In der historischen Literatur tauchen diese Organisationen zwar auf, stehen aber meist am Rand. Die Literatur über Zollpolitik stammt oft von Politikwissenschaftler:innen und Ökonom:innen. Beide haben den Pressure Groups nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Meine erste Recherche hat aber gezeigt, dass sie unglaublich aktiv waren. Seit den 1880er-Jahren gab es ein starkes Bestreben, Protektionismus in die Öffentlichkeit zu bringen. Das wurde auch mit viel Geld betrieben, zum Beispiel von der Eisen- und Stahlindustrie.

Kamen diese Forderungen nach mehr Protektionismus nur von den Arbeitgeberverbänden oder auch von Gewerkschaften?

Bei den Verbänden geht es ziemlich eindeutig um die Interessen des Kapitals. Der größte Verband, den ich untersuche, ist die American Protective Tariff League, gegründet 1885. Zusammen mit einer studentischen Mitarbeiterin habe ich schon genauer geschaut, wer darin die Akteure waren: Kapitalisten und republikanische Parteipolitiker. Zollpolitik war Lagerpolitik in jener Zeit: Die Demokraten waren für niedrige Zölle, die Republikaner für hohe Zölle. Als die American Protective Tariff League gegründet wurde, tobten in den USA schwere Arbeitskämpfe, die Unternehmer waren also alles andere als arbeitnehmerfreundlich. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch protektionistische Bestrebungen in der Arbeiterschaft gab oder dass man nicht versucht hätte, die Arbeiter:innen für protektionistische Positionen zu gewinnen. Erstaunlicherweise tauchten in den Pamphleten und Flugblättern der Pressure Groups relativ häufig die Interessen der amerikanischen Arbeiterschaft auf: Der amerikanische Lebensstandard und die relativ hohen Löhne im Vergleich zu Europa hängen, so das Argument, an dem Schutz durch hohe Zölle. Bricht dieser Schutzwall, würden die USA geflutet von europäischen Billigimporten, wodurch eben auch der amerikanische Arbeiter diesen „großartigen“ Wohlstand nicht mehr genießen könne. In der Zollfrage bestehe zwischen Unternehmern und Arbeitern also Interessensgleichheit, so zumindest die Argumentation. Dazu kommt dann oft noch das klassische Argument der Infant Industry: Man müsse junge Industriezweige unter dem Schutz hoher Zölle aufbauen; sobald die Industrie konkurrenzfähig ist, brauche es den Zollschutz nicht mehr. Dieses Argument war dann allerdings gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend obsolet, da die Industrie der USA der europäischen Konkurrenz in sehr vielen Bereichen überlegen war.

Es gab also aus Sicht der USA durchaus gute Gründe, den Protektionismus zu reduzieren.

Absolut, vor allem natürlich in Branchen, die starkes Exportinteresse hatten. Das hat übrigens auch innerhalb des republikanischen Lagers zu Spannungen geführt hat: Einige Industrielle forderten niedrigere Zölle, damit die USA im Gegenzug bessere Exportmöglichkeiten bekämen. Ich verfolge die American Protective Tarrif League von den 1880er-Jahren bis ca. 1960. In dieser Zeit verändert sich deren politisches Umfeld radikal: Die USA beginnen ab 1934, den Protektionismus abzubauen, und werden nach dem 2. Weltkrieg schnell zur treibenden Kragt der internationalen Handelsliberalisierung. Schon vorher gab es erste Versuche einer Zollreform. Die USA wandelten sich von einem Hoch- zu einem Niedrigzollland. Ich bin gespannt, wie Organisationen wie die American Protective Tarrif League mit diesem Wandel umgegangen sind. Das sind ja Organisationen, die sich gerühmt haben, die öffentliche Debatte zu bestimmen und sogar Präsidenten ins Amt zu bringen. Sie sahen sich an den Hebeln der Macht. Einige Jahrzehnte später sind sie in der totalen Opposition. Ich möchte mir anschauen, ob und wie sich die Argumentation daraufhin wandelte. Wieviel bleibt noch von der Argumentation übrig? Wie wandelt sich die Ideologie? Welche personellen Kontinuitäten gibt es, welche Branchen bleiben oder werden aktiv? Kommen irgendwann auch Arbeiter und Gewerkschaften dazu? Außerdem interessiere ich mich für die Mittel der Agitation. Ich möchte untersuchen, wie man versucht hat, ein doch eher technisch-abstraktes Thema wie Zollpolitik so zu popularisieren, dass es auch breitere Schichten anspricht. Daraus ergibt sich dann natürlich auch die Frage, warum das zu manchen Zeiten besser und zu anderen beinahe gar nicht mehr funktioniert hat.

Hast du schon genug Material sammeln können, oder musst du noch einmal los?

Ich möchte natürlich gerne noch einmal auf Archivreise gehen. Aber ich habe schon sehr viel Material gesammelt – wahrscheinlich mehr als ich überhaupt im Detail lesen kann. Derzeit arbeite ich an meinem Dissertationsproposal: Wenn ich an die Detailplanung gehe, könnte es sein, dass ich feststelle: Hier oder da sind noch einige Lücken, die ich bei einer zweiten Rechercherunde schließen muss. Aber bevor ich zu einer zweiten Reise aufbreche, sind erst einmal die anderen Projektmitglieder dran.


Kontakt:
Fritz Kusch
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik, Fachbereich Sozialwissenschaften
Universitäts-Boulevard, GW2
28359 Bremen
Tel.: +49 421 218-58581
E-Mail: kusch@uni-bremen.de