Öktem hat an der Bilkent-Universität in Ankara zur Entstehung von Wohlfahrtssystemen im Globalem Süden promoviert. Im Interview spricht er über seine akademische Laufbahn und erklärt seine Rolle im SFB.

Lieber Kerem, du bist vor einigen Wochen an die Uni Bremen gewechselt und arbeitest nun auch im SFB –Teilprojekt B01 – herzlich willkommen! Welchen Themen und Aufgaben wirst du dich in den nächsten Monaten widmen?

Kerem Öktem: Als Mitarbeiter im Teilprojekt zu „Mechanismen der Verbreitung von Sozialpolitik“ werde ich mir insbesondere die Entwicklung der türkischen Sozialpolitik anschauen. Ein besonderes Augenmerk meiner Arbeit wird darauf liegen, zu verstehen, welche kausalen Mechanismen bei der Einführung und Entwicklung der Arbeitslosigkeitsversicherung in der Türkei eine Rolle gespielt haben.

Nach deinem Studium in Bayreuth bist du an die Bilkent-Universität in Ankara gewechselt. Was waren deine Gründe, dort zu promovieren?

Bereits während meines Studiums in Bayreuth bin ich für ein Auslandspraktikum bei der türkischen Menschenrechtsstiftung (TIHV) und für ein Auslandssemester an der Middle East Technical University (METU/ODTÜ) in Ankara gewesen. Aus privaten Gründen war es für mich naheliegend, in Ankara zu bleiben und so entschied ich mich, an der Bilkent Universität zu promovieren.

Es gibt wahrscheinlich kaum eine Phase in der Laufbahn eines Wissenschaftlers, in der man sich derart intensiv mit einem Thema beschäftigen kann wie während der Promotionszeit. Deine Dissertation trägt den Titel: "Pathways to universal social security in lower income countries: explaining the emergence of welfare states in the developing world". Was war aus deiner Sicht die wichtigste Erkenntnis, die du dabei gewonnen hast?

Meine Dissertation widmet sich der Frage, unter welchen Umständen relativ arme Länder eine so umfassende Sozialpolitik entwickeln, dass man sie in gewisser Weise als Sozialstaaten beschreiben kann. Was mich dabei besonders überrascht hat, war, dass Sozialpolitik in sehr verschiedenen Kontexten, von Regierungen und Regimes sehr unterschiedlicher Art ausgebaut wurde. Zwei der Fälle, die ich mir im Detail angeschaut habe, waren Brasilien und Südafrika. Hier hat sich beispielsweise gezeigt, dass in Brasilien nicht nur die demokratischen mitte-links Regierungen der 2000er-Jahre, sondern bereits das rechte Militärregime von 1964 bis 1985, und in Südafrika nicht nur die vom African National Congress (ANC) gebildeten Regierungen der post-Apartheid-Ära, sondern bereits Regierungen während der Apartheid-Zeit Sozialpolitik aus sehr eigenen Motiven heraus ausgebaut haben.

2017 bist du an die Uni Bielefeld gewechselt und hast im Projekt "How 'Social' Is Turkey"? gearbeitet. Kann man darauf eine Antwort geben – wie sozial ist die Türkei?

Die Frage "wie 'sozial' ist die Türkei?" in dem Projekttitel bezog sich auf unseren Versuch, zu verstehen, inwiefern in der Türkei eine Sozialpolitik entstanden ist, die europäischen Sozialstaaten ähnlich ist. Dabei haben wir herausgefunden, dass in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Sozialpolitikprogramme, die den modernen Sozialstaat ausmachen, wie z.B. eine Altersrente oder eine Krankenversicherung, in der Türkei eingeführt und nach und nach auf einen Großteil der Bevölkerung ausgedehnt wurden. Insofern ist die Türkei inzwischen den europäischen Sozialstaaten recht ähnlich. Wenn man sich allerdings die Details der Programme anschaut, sieht man, dass weiterhin Unterschiede bestehen. So fehlt z.B. ein Rechtsanspruch auf materielle Grundsicherung, wie er in Deutschland besteht. Wenn man den Kontext weiter fasst und den europäischen Sozialstaat im demokratischen Rechtsstaat eingebettet sieht, wird der Vergleich natürlich noch schwerer.

Wird die Türkei ein Schwerpunkt deiner wissenschaftlichen Arbeit bleiben oder verschiebt sich dein Interesse in eine andere Region?

Die Erforschung der türkischen Sozialpolitik aus vergleichender Perspektive wird weiterhin ein Schwerpunkt meiner Arbeit bleiben. Allerdings möchte ich mich auch wieder verstärkt anderen Ländern zuwenden. Sofern mir die Zeit dafür bleibt, werde ich mir beispielsweise die sozialpolitischen Entwicklungen in Indien, die in der internationalen Forschung erstaunlich wenig diskutiert werden, anschauen.


Kontakt:
Dr. Kerem Gabriel Öktem
SFB 1342: Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik
Mary-Somerville-Straße 7
28359 Bremen
E-Mail: oektem@uni-bremen.de